Die Anonymen Alkoholiker gibt es seit 1974 in Stuttgart. Drei Betroffene erzählen von ihrer Suchtgeschichte. Mit dem Trinken haben sie teilweise schon in ihrer Kindheit begonnen.

Stuttgart - Hans hat früh angefangen zu trinken. Mit 13 Jahren erlebte er den ersten Rausch, mit 17 trank er täglich. Wenn eine Flasche aus dem Weinkeller fehlte, fiel das zu Hause nicht auf. Alkohol war in dem Professorenhaushalt immer verfügbar. Seine Eltern sorgten sich weniger um das Seelenheil ihres Sohnes, als um den eigenen Ruf. „Was sollen nur die Nachbarn denken“ – mit diesem Satz sei er aufgewachsen, erzählt Hans. Er wolle aber seinen Eltern nicht die Schuld für seine Sucht geben. Er sei ins Reine gekommen mit beiden, sagt Hans. Auch dafür ist er den Anonymen Alkoholikern dankbar. Seit zweieinhalb Jahren ist der 53-Jährige trocken.

 

„Ich bin Hans, und ich bin Alkoholiker“

Gemeinsam mit Susanne und Martin, zwei weiteren Anonymen Alkoholikern, ist er in die Kontaktstelle der „Gemeinschaft“ in Feuerbach gekommen, um über das Leben als Alkoholiker zu sprechen – und Einblick in die Selbsthilfegruppe zu geben, in der sich alle nur beim Vornamen anreden: „Ich bin Hans, und ich bin Alkoholiker“ – so lautet die typische Begrüßung.

Ursprünglich 1935 in den USA gegründet, gibt es die Anonymen Alkoholiker im November seit 40 Jahren auch in Stuttgart – der Hauptzweck nach eigenen Angaben: „nüchtern zu bleiben und anderen Alkoholikern zur Nüchternheit zu verhelfen“. Die Anonymen Alkoholiker setzen auf absolute Abstinenz und folgen weltweit den gleichen zwölf festgelegten „Schritten“ und „Traditionen“ mit teils sehr spirituellen Zügen (siehe Infokasten). Das passt sicherlich nicht zu jedem, doch umstritten sind die Anonymen Alkoholiker in Stuttgart deshalb nicht. „Die, die sich darauf einlassen, denen hilft es“, sagt Ute Reser, die Leiterin der Suchtberatungsstelle des Klinikums, die Selbsthilfegruppen ganz generell für Alkoholiker als sehr wichtig ansieht. Der Therapieerfolg erhöhe sich.

„Die Anonymen Alkoholiker haben mir gut getan“

Hans hat „den Tiefpunkt gebraucht“, um trocken zu werden, sagt er. Zuletzt kam er kaum noch aus dem Bett. Oft schlich er bereits morgens um fünf Uhr am Bahnhof herum, weil man dort besonders früh Alkohol kaufen kann. Sechs Entgiftungen und zwei Psychiatrieaufenthalte hatte er hinter sich, als er schließlich sein erstes „Meeting“ besuchte. „Die Anonymen Alkoholiker haben mir gut getan, in einem Kreis von Menschen zu sein, die das gleiche Problem haben“, sagt der Stuttgarter.

Für Martin war „das Meeting ein Gefühl der Freiheit“. Er kam vor dreieinhalb Jahren nach einem Suizidversuch das erste Mal in die Kontaktstelle. An einem Wintertag Ende Dezember hatte er versucht, sich das Leben zu nehmen. Volltrunken hatte er einen Rucksack mit Steinen bepackt, mit dem er sich vom Berger Steg aus in den Neckar stürzen wollte, um ja nicht wieder aufzutauchen. Doch dann habe die linke Hand einfach nicht losgelassen, erzählt er.

Zu den Treffen kommen Ärzte, Handwerker, Pfarrer

In der Klinik sagte ihm ein Arzt, dass er es alleine nicht schaffen würde, vom Alkohol loszukommen. Martin landete über einen Umweg bei den Anonymen Alkoholikern. Bei seinem ersten Treffen sei er erstaunt gewesen: die anderen sahen ganz normal aus, gar nicht wie verwahrloste „Penner“, wie er das angenommen hatte. Stattdessen traf er auf Menschen aller Berufsgruppen und Schichten: Ärzte, Handwerker, Pfarrer, Harzt-IV-Empfänger. Martin hatte immer alleine für sich zu Hause getrunken, nicht bei der Arbeit oder mit anderen. Dass bei den Anonymen Alkoholikern jeder Redezeit bekommt, ohne unterbrochen zu werden, gefiel ihm. Inzwischen wird der 56-Jährige nicht mehr wütend, wenn andere von einem Rückfall erzählen. Die Wut, das hat er begriffen, war in seiner eigenen Angst begründet, dass auch er wieder zur Flasche greifen könnte. Drei- bis fünfmal die Woche geht Martin in ein Meeting.

Bei Susanne vergehen mal zwei Tage, dann wieder zwei oder drei Wochen. Susanne wirkt abgeklärt und stark, vielleicht liegt das daran, dass sie schon so lange trocken ist: 33 Jahre, neun Monate und neun Tage. Sie hatte mit 13 Jahren im Internat mit dem Trinken und Kiffen angefangen, wo sich niemand darum kümmerte, wie es ihr ging. Irgendwann, sagt Susanne, mit 26 Jahren, sei ihr klar geworden, „dass ich bald sterben würde.“ Sie schaffte den kalten Entzug und lernte bei den Anonymen Alkoholikern, dass sie ihr Leben ändern muss – und dass sie es immer „nur für heute“ schaffen muss, das erste Glas stehen zu lassen. Susanne ist bei der Arbeit immer offen mit ihrer Alkoholsucht umgegangen und hat damit positive Erfahrungen gemacht. Martin und Hans geht es ähnlich. „Ich bin von keinem fallengelassen worden“, sagt Hans, der Freiberufler ist. Er sei froh, nicht mehr lügen zu müssen, sondern ehrlich sein zu können.

„Vor Alkohol kann man ohnehin nicht fliehen“

Hans bekommt beruflich oft Alkohol als Dankeschön geschenkt. Inzwischen ist er so gefestigt, dass er die Flaschen zu Hause aufbewahren kann, um sie dann als Geschenk für andere parat zu haben. „Mir ist klar, dass ich ihn nicht mehr in mir drin haben will“, sagt Hans. Vor Alkohol selbst könne man ohnehin nicht fliehen.

Martin geht anders vor. Er hat sein Zuhause vom Alkohol befreit. Sogar die Weingläser hat er weggeworfen. Er versucht, dem Suchtmittel auszuweichen, so gut es geht. Als er kürzlich hinter einem Lastwagen mit großer Bierwerbung drauf hergefahren ist, ist er sofort abgebogen. Dass das einen Umweg bedeutete, war ihm egal.

Die „Schritte“ der Anonymen Alkoholiker

„Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten“, so lautet der erste der „zwölf Schritte“, denen die Anonymen Alkoholiker folgen und die in den Gruppenräumen aushängen. In mehreren Schritten wird der Bezug zu Gott hergestellt, zum Beispiel in Schritt 3: „Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser leben der Sorge Gottes – wie wir ihn verstanden – anzuvertrauen.“ Oder in Schritt 6: „Wir waren völlig bereit, all’ diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.“ In der Präambel der Anonymen Alkoholiker heißt es, dass die Gemeinschaft mit keiner Sekte, Konfession, Partei, Organisation oder Institution verbunden sei.

Das Angebot und das Kontakttelefon

Die Kontaktstelle der Anonymen Alkoholiker in Stuttgart liegt in der Stuttgarter Straße 10. Dort finden täglich Gruppentreffen statt. Es gibt auch englischsprachige und Internet-Meetings. Auch in Institutionen in weiteren Stadtbezirken, zum Beispiel im evangelischen Gemeindehaus in Vaihingen oder im Zentrum für seelische Gesundheit in Bad Cannstatt, finden regelmäßig statt.

Das Kontaktelefon ist von 7 bis 23 Uhr besetzt und unter der Telefonnummer 1 92 95 erreichbar.