Fünf Jahre ist es her, dass die Oklas alle ihre Kinder umarmt haben. Danach gab es nur noch Facebook und Skype. Früher, in Karakus, kamen die Kinder jeden Abend zu Besuch, erzählt die Mutter. Jetzt haben die Oklas fünf Jahre die eine in die USA geflüchtete Tochter und den im Libanon gestrandeten Sohn nicht gesehen, drei Jahre die andere Tochter, die wegen ihres Mannes im Krieg zurückgeblieben ist. „Ich bin doch ihre Mama, und mein Mann ist ihr Papa“, sagt Shamsa Okla auf Deutsch. Sie packt ihren ganzen Schmerz in diesen unbeholfen formulierten Satz: Eine Mutter, die nicht in den Arm nehmen, ein Vater der nicht beschützen kann, das ist jetzt schon seit Jahren ihr Leben. Während ihr Sohn Adeed in Vaihingen Reifen wechselt, sitzen die Eltern in ihrer Wohnung in Degerloch und warten auf seine Besuche. Oder sie gehen ins Internet und schauen nach, ob sich eines ihrer Kinder von einem anderen Kontinent gemeldet hat.

 

Draußen ist das für die Oklas neue Land. Drinnen im Herzen scheint dafür kein Platz zu sein. Es ist nicht so, dass das irakische Ehepaar nicht froh ist, in Deutschland zu sein. Sie würden sehr gern den Sprachunterricht besuchen, sagen sie. Sie freuen sich auch über jeden Deutschen, den sie zum Beispiel aus dem Freundeskreis für Flüchtlinge kennen. Ein so freundliches Volk, ein so gutes Volk seien die Deutschen, sagt Sabah Okla. Doch das Problem ist ihr Mangel an Energie. Das, was der Irak davon übrig gelassen hat, wird absorbiert vom Vermissen ihrer Lieben.

Im Asylheim am Neckarpark in Bad Cannstatt stellt sich der 70-jährige Eritreer Aaron Tecla (Name geändert) eine ähnliche Frage wie das irakische Ehepaar in Degerloch. Wie neu anfangen, wenn alles, was die vergangenen Jahrzehnte ausgemacht hat, auf einem anderen Kontinent zurückgeblieben ist? Die Frau, die er vor 45 Jahren geheiratet hat, ist nun Tausende Kilometer weit weg. Die Kinder sind es auch. Bis auf einen Sohn, der vor Jahren nach Schweden geflohen ist. Wie kann einen Mann, der sein siebtes Lebensjahrzehnt beginnt, all dem den Rücken kehren?

Tecla spricht ein präzises Englisch mit leichtem Akzent. Er stellt klar, dass er über Details zu seinen Fluchtgründen nichts erzählen kann. Weil sein Verfahren noch laufe. Weil Frau und Kinder noch leben in dem Land, das oft als Nordkorea Afrikas bezeichnet wird, und gefährdet sein könnten. Nur so viel: er habe nicht bleiben können in  seinem Heimatland. Ja, er kenne den Spruch, dass man einen alten Baum nicht verpflanze, sagt er. Dann zuckt er mit den Schultern. Als wolle er sagen, der alte Baum wollte eben lieber weiter atmen, als auf der heimischen Scholle auf die Axt zu warten. Tecla hat nur einen Wunsch. Seine Frau soll über die Familienzusammenführung nachkommen. Die Kinder seien dagegen erwachsen. Da könne er nichts machen.

Das Glas ist fast leer, aber es ist noch etwas drin

Im Zuge der Debatte über die Begrenzung der Zuwanderung von Flüchtlingen steht der Familiennachzug zunehmend zur Disposition. Aber dem Eritreer scheint die vage Hoffnung im Moment auszureichen. Er wirkt auch genügsam, wenn es um die Frage geht, wie er sich seine restlichen Jahre in Deutschland vorstellt. „Wissen Sie, ich vergleiche meine Lage mit dem, was zu Hause hätte sein können.“ Vielleicht könne er einmal ein eigenes Zimmer haben außerhalb eines Heims, sagt er. Teclas Bescheidenheit wirkt wie das zufriedene Lächeln eines Schlaganfallpatienten, der im Rollstuhl sitzt, aber froh ist, dass er überlebt hat. Das Glas ist fast leer, aber immerhin ist noch etwas drin.

Sabah Okla sitzt still neben seiner Frau, während diese auf Deutsch und Arabisch ihre Geschichte erzählt. Zweieinhalb Jahre nach der Flucht spricht der 63-Jährige immer noch kaum mehr als ein paar Brocken Deutsch. Das deutsch-arabische Wörterbuch liegt vor ihm auf dem Wohnzimmertisch. Sabah Okla betrachtet es ehrfürchtig, als wäre es ein Buch mit magischen Sprüchen. Die Oklas bekommen natürlich Sprachunterricht wie alle anerkannte Flüchtlinge. Doch ihre Fortschritte halten sich in Grenzen. Der Mann kann kaum mehr sagen als seinen Namen. Seine Frau kann zwar ganze Sätze formulieren, es fehlt ihr aber an Wortschatz. Vielleicht ist es in ihrem Alter einfach sehr schwierig, eine neue Sprache zu lernen. Vielleicht ist dafür einfach zu viel Irak in ihrem Kopf. Die Tochter sei immer noch dort. Das raube ihr den Schlaf, erzählt die Mutter. Die anderen Kinder hat der Irak dagegen ausgespuckt und zum Teil, wie die Tochter Hida, ans andere Ende der Welt, nach Amerika, vertrieben.

Die Kraft ist verloren gegangen

Fünf Jahre ist es her, dass die Oklas alle ihre Kinder umarmt haben. Danach gab es nur noch Facebook und Skype. Früher, in Karakus, kamen die Kinder jeden Abend zu Besuch, erzählt die Mutter. Jetzt haben die Oklas fünf Jahre die eine in die USA geflüchtete Tochter und den im Libanon gestrandeten Sohn nicht gesehen, drei Jahre die andere Tochter, die wegen ihres Mannes im Krieg zurückgeblieben ist. „Ich bin doch ihre Mama, und mein Mann ist ihr Papa“, sagt Shamsa Okla auf Deutsch. Sie packt ihren ganzen Schmerz in diesen unbeholfen formulierten Satz: Eine Mutter, die nicht in den Arm nehmen, ein Vater der nicht beschützen kann, das ist jetzt schon seit Jahren ihr Leben. Während ihr Sohn Adeed in Vaihingen Reifen wechselt, sitzen die Eltern in ihrer Wohnung in Degerloch und warten auf seine Besuche. Oder sie gehen ins Internet und schauen nach, ob sich eines ihrer Kinder von einem anderen Kontinent gemeldet hat.

Draußen ist das für die Oklas neue Land. Drinnen im Herzen scheint dafür kein Platz zu sein. Es ist nicht so, dass das irakische Ehepaar nicht froh ist, in Deutschland zu sein. Sie würden sehr gern den Sprachunterricht besuchen, sagen sie. Sie freuen sich auch über jeden Deutschen, den sie zum Beispiel aus dem Freundeskreis für Flüchtlinge kennen. Ein so freundliches Volk, ein so gutes Volk seien die Deutschen, sagt Sabah Okla. Doch das Problem ist ihr Mangel an Energie. Das, was der Irak davon übrig gelassen hat, wird absorbiert vom Vermissen ihrer Lieben.

Im Asylheim am Neckarpark in Bad Cannstatt stellt sich der 70-jährige Eritreer Aaron Tecla (Name geändert) eine ähnliche Frage wie das irakische Ehepaar in Degerloch. Wie neu anfangen, wenn alles, was die vergangenen Jahrzehnte ausgemacht hat, auf einem anderen Kontinent zurückgeblieben ist? Die Frau, die er vor 45 Jahren geheiratet hat, ist nun Tausende Kilometer weit weg. Die Kinder sind es auch. Bis auf einen Sohn, der vor Jahren nach Schweden geflohen ist. Wie kann einen Mann, der sein siebtes Lebensjahrzehnt beginnt, all dem den Rücken kehren?

Tecla spricht ein präzises Englisch mit leichtem Akzent. Er stellt klar, dass er über Details zu seinen Fluchtgründen nichts erzählen kann. Weil sein Verfahren noch laufe. Weil Frau und Kinder noch leben in dem Land, das oft als Nordkorea Afrikas bezeichnet wird, und gefährdet sein könnten. Nur so viel: er habe nicht bleiben können in  seinem Heimatland. Ja, er kenne den Spruch, dass man einen alten Baum nicht verpflanze, sagt er. Dann zuckt er mit den Schultern. Als wolle er sagen, der alte Baum wollte eben lieber weiter atmen, als auf der heimischen Scholle auf die Axt zu warten. Tecla hat nur einen Wunsch. Seine Frau soll über die Familienzusammenführung nachkommen. Die Kinder seien dagegen erwachsen. Da könne er nichts machen.

Das Glas ist fast leer, aber es ist noch etwas drin

Im Zuge der Debatte über die Begrenzung der Zuwanderung von Flüchtlingen steht der Familiennachzug zunehmend zur Disposition. Aber dem Eritreer scheint die vage Hoffnung im Moment auszureichen. Er wirkt auch genügsam, wenn es um die Frage geht, wie er sich seine restlichen Jahre in Deutschland vorstellt. „Wissen Sie, ich vergleiche meine Lage mit dem, was zu Hause hätte sein können.“ Vielleicht könne er einmal ein eigenes Zimmer haben außerhalb eines Heims, sagt er. Teclas Bescheidenheit wirkt wie das zufriedene Lächeln eines Schlaganfallpatienten, der im Rollstuhl sitzt, aber froh ist, dass er überlebt hat. Das Glas ist fast leer, aber immerhin ist noch etwas drin.

Seine Tage verbringt er damit, im Büro des Flüchtlingsheims auszuhelfen. „Das hält mich geistig fit.“ Dann ist da noch der Deutschunterricht. Kein Problem sei der, sagt er. Englisch und Deutsch seien ja miteinander verwandt, sagt er. So viel Optimismus, wo soll der in Teclas Alter und Lage hinführen? Vielleicht zu einem Lebensabend, der etwas anders aussieht als der von Shamsa und Sabah Okla. Ohne Kinder und Heimat, aber mit kleinen Freuden wie dem erledigten Papierkram im Büro der Bad Cannstatter Flüchtlingsunterkunft. Dem Bewusstsein, dass das Schlimme nicht besser wird, wenn es ständig schmerzt.

Aaron Tecla verabschiedet sich mit einem kräftigen Handschlag. Wie er dann den Gang in Richtung Zimmer geht, wirkt er nicht wie ein gebrochener Mann. Vielleicht würden sich die Oklas in Degerloch über seinen Besuch freuen. Vielleicht könnte er dem irakischen Ehepaar verraten, wie das funktioniert: nicht nur auf das zu schauen, was verloren ist.