Fußballmanager Rudi Assauer hat die Debatte über die Alzheimer-Erkrankung erneut entfacht. Die Zahl der Patienten steigt rasant.

Stuttgart - Am 5. November 1994 verabschiedete sich der frühere US-Präsident Ronald Reagan von der Welt. "Ich beginne nun die Reise, die mich zum Sonnenuntergang meines Lebens führt", schrieb er in einem Brief, in dem er seine Landsleute darüber informierte, dass er an Alzheimer-Demenz erkrankt sei und sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehe. Knapp zehn Jahre später, am 5. Juni 2004, starb er. Es war ein würdiger Abschied und eine berührende Geste der Demut von einem, der 1987 als mächtigster Politiker in Berlin eine Weltmacht herausforderte: " Mr. Gorbachow, tear down this wall!".

 

Mit seinem Abschiedsbrief brach Reagan nicht nur ein Tabu, weil er seine Krankheit öffentlich machte. Er dokumentierte auch, dass sie jeden treffen kann, ob arm oder reich, mächtig oder unscheinbar, und dass es keine Heilung gibt, wohl aber die Möglichkeit, sie mit menschlicher Größe anzunehmen und zu tragen. Seit Reagans Bekenntnis wird über das Thema anders gesprochen. Dass der populärste deutsche Boxer Bubi Scholz umnachtet starb oder dass die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher ebenso an Demenz leidet wie die frühere Fußballlegende Gerd Müller oder der herausragende Rhetoriker Walter Jens - niemand muss das mehr verschweigen. In aller Offenheit wurde freilich auch der Suizid des Industriellenerben, Fotografs und Kunstsammlers Gunther Sachs diskutiert, der sich im vergangenen Jahr erschoss, weil er selbst an sich Alzheimer diagnostiziert hatte und seinen absehbaren geistigen Verfall nicht ertragen wollte und konnte.

Inzwischen eine Volkskrankheit

Man kann freilich heute nicht nur ganz offen über Demenz sprechen, man muss es auch, denn die erstmals von dem deutschen Psychiater und Neuropathologen Alois Alzheimer zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschriebene Hirnleistungsstörung ist inzwischen eine Volkskrankheit. In Deutschland sind derzeit zwischen einer Million und 1,2 Millionen Menschen an Demenz erkrankt, was, aus dem Lateinischen wörtlich übersetzt, heißt "weg vom Geist" beziehungsweise "ohne Geist". Und jährlich erkranken rund 200.000 weitere Patienten daran, weil nicht nur der Anteil der alten Menschen in der Gesellschaft wächst, sondern die Menschen zugleich auch immer älter werden und die Demenz eine Erkrankung des hohen Alters ist. Bis zum Jahr 2030, so die Prognosen, dürfte sich die Zahl der Patienten verdoppelt haben.

Es gibt viele Ursachen für Demenz, die nicht gleichzusetzen ist mit dem natürlichen Alterungsprozesses, der auch vor dem Gehirn nicht haltmacht; mehr als 60 Prozent aller Demenzen werden der Alzheimer-Demenz zugeordnet. Sie ist nicht heilbar und mehr als eine einfache Gedächtnisstörung. Solche Symptome stehen zwar auch am Anfang der Krankheit, doch zu den Störungen des Kurzzeitgedächtnisses und der Merkfähigkeit kommen weitere Leistungsminderungen im Verlauf der Zeit hinzu. Das Langzeitgedächtnis schwindet, ganz alltägliche Fähigkeiten und Fertigkeiten gehen verloren. Das können Kochrezepte sein, oder das Wissen, wie man ein Hemd zuknöpft, wofür man die Zahnbürste benutzt oder dass man einen Mantel anzieht, wenn es kalt ist.

Eine gesellschaftliche Zeitbombe

Es bleibt nicht dabei, dass man ab und zu den roten Faden verliert; Menschen mit Demenz können sich zunehmend nicht mehr in Raum und Zeit orientieren. Die Namen der nächsten Angehörigen fallen einem nicht mehr ein, Wege wirken neu und fremd, auch wenn sie täglich gegangen werden - all das löst Ängste aus und Unsicherheit. Sprachschwierigkeiten nehmen zu und Stimmungsschwankungen mit Phasen großer Unruhe und ausgeprägter Lethargie. Für alltägliche Verrichtungen brauchen die Patienten dann Anleitung, Begleitung und Pflege, auch wenn sie körperlich noch nicht hinfällig sind. Die intensive Zuwendung, die die Betroffenen benötigen, ist eine gesellschaftliche Zeitbombe. Im Jahr 2008 wurden bereits rund 9,4 Milliarden Euro für Heilbehandlungen, Rehabilitation und Pflege ausgegeben - und die Tendenz ist rasant steigend. Es sind in wachsendem Maße Pflegekräfte nötig, von denen es schon jetzt viel zu wenig gibt.

Die Kosten werden auch deshalb steigen, weil die Demenzkranken bis jetzt in vielen Bereichen nicht adäquat versorgt werden. Das hat mehrere Gründe. Die Pflegeversicherung etwa geht noch immer von einem Pflegebegriff aus, der sich an körperlichen Einschränkungen orientiert, die Folgen geistigen Abbaus aber kaum berücksichtigt. Die Konsequenz sind emotional oder finanziell überforderte Angehörige. Zwar hat ein vom Bundesgesundheitsministerium eingesetzter Beirat schon 2009 einen Bericht für grundlegende Reformschritte vorgelegt, doch das vom früheren Minister Phillip Rösler ausgerufene "Jahr der Pflege" 2011 verstrich, ohne dass die Neubestimmung umgesetzt worden ist. Daran wird sich wohl auch bis zur Bundestagswahl 2013 nichts ändern. Die Betroffenen sollen sich also auf absehbare Zeit mit geringen Verbesserungen beim Pflegegeld und bei den Sachleistungen zufriedengeben.

Demenz ist freilich nicht nur für die Sozialkassen ein Mega-Thema, sondern auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht. Denn wie viel Lebensqualität Demenzkranke haben, hängt vor allem vom konkreten Umfeld ab. Das stellt nicht nur die Angehörigen vor eine große Aufgabe, sondern besonders auch die Kommunen. Sie müssen dafür sorgen, dass es genügend Möglichkeiten und Räume gibt, damit Menschen mit Demenz geschützt leben und sich angenommen fühlen können. Dafür bedarf es neuer Dienstleistungsstrukturen und Wohnformen. Nötig ist auch ein vielfältiges ehrenamtliches Engagement. Im Sauerland hat die Stadt Arnsberg - unterstützt von der Robert Bosch Stiftung - die "Lern-Werkstadt Demenz" ins Leben gerufen, um ein besseres Leben mit Demenz zu ermöglichen. Bürgermeister Hans-Josef Vogel ist überzeugt davon, dass dadurch seine Stadt "sozial produktiver und lebendiger wird". Das daraus entwickelte Handbuch für Kommunen ist empfehlenswert.