Monika Lüke, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, kritisiert, dass Europa im Umgang mit Ölstaaten zu nachsichtig ist.

Stuttgart - Die Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International, Monika Lüke, kritisiert, dass die europäischen Regierungen im Umgang mit den arabischen Ölstaaten zu nachsichtig seien.

 

Frau Lüke, werden die Menschenrechte heute stärker geachtet als vor einem halben Jahrhundert?

Formal ja, praktisch leider immer noch zu wenig. Als wir anfingen, gab es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, aber sonst fast keine bindenden Verträgen. Heute haben sich die Staaten völkerrechtlich in vielerlei Form zur Achtung der Menschrechte verpflichtet - bis hin zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs. Man sollte sich aber nicht der Illusion hingeben, damit hätte sich auch die tatsächliche Lage verbessert. Im Jahresbericht 2011 führen wir 98 Staaten auf, in denen Menschen gefoltert oder misshandelt werden.

Wie hat sich der Fokus Ihrer Organisation in diesen fünfzig Jahren verschoben?

Eines unserer großen Themen ist die Todesstrafe. 1961 hatten gerade mal zehn Staaten die Todesstrafe abgeschafft. Jetzt sind es 139, also mehr als zwei Drittel aller Staaten. In den 70er Jahren haben wir sehr stark gegen Folter gekämpft. Anlass waren die Zustände in vielen südamerikanischen Militärdiktaturen. Danach dachten wir, große Fortschritte bei diesem Thema erreicht zu haben. Aber nach dem 11. September 2001 geriet die Gewissheit, wenigstens in der westlichen Welt sei Folter allseits geächtet, durch den sogenannten Krieg gegen den Terror ins Wanken. Diese Probleme sind heute wieder virulent, dazu kommen neue wie die Flüchtlingsfragen oder illegale Zwangsräumungen in Slums.

Viele Despoten reagieren auf den Freiheitswillen ihrer Bürger mit noch mehr Druck, noch mehr Gewalt. Zahlt sich das für deren Machterhalt aus?

Kurzfristig manchmal ja, langfristig nein. Selbst wenn sich Despoten nicht um Menschenrechte scheren, ist das heute nicht mehr so einfach durchzuhalten. Die Medien transportieren heute Nachrichten über solche Vergehen viel schneller um die Welt. Das beeindruckt Diktatoren mittelfristig schon, denn sie wollen ja ihren Ruf in der Welt nicht verlieren. Und sie brauchen die Unterstützung anderer Regierungen, mit denen sie politisch oder wirtschaftlich kooperieren wollen. Selbst bei Staaten wie China und Iran ist es durch hunderttausende Briefe oder Mails gelungen, Einzelne freizubekommen.

Außenminister Guido Westerwelle erhebt den Anspruch, sich stärker für die Menschenrechte einzusetzen als seine Vorgänger. Spüren Sie davon etwas?

Außenminister Westerwelle nimmt sich einzelner Fälle an, wenn er auf Reisen geht. Ob er sich stärker als die Vorgänger einsetzt, vermag ich nicht zu beurteilen. Er könnte sich aber sicher noch stärker einsetzen, etwa in der arabischen Welt: da hat er in der Vergangenheit gekniffen. Westerwelle kann sich ja jetzt, nach Abgabe des FDP-Vorsitzes, ganz auf die Außenpolitik konzentrieren und damit auch mehr für die Menschenrechte tun.

Im Fall der arabischen Staaten wird oft argumentiert, hier sei Zurückhaltung angeraten, weil wichtige deutsche Interessen auf dem Spiel stünden - etwa die Versorgung mit Öl. Akzeptieren Sie dieses Argument?

Überhaupt nicht. Auch Staaten wie Libyen oder Saudi-Arabien haben die entscheidenden internationalen Menschenrechtsverträge unterzeichnet. Sie haben damit freiwillig die Menschenrechte als Maßstab allen politischen Handelns akzeptiert. Das müssen sie dann auch umsetzen.

Also müsste auch gegen Saudi-Arabien oder die Golfstaaten stärker protestiert werden?

Die Europäische Union - namentlich Deutschland - sollten aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und die Politik gegenüber den Scheichtümern der arabischen Welt nicht mehr an strategischen oder wirtschaftlichen Interessen, sondern an den Menschenrechten ausrichten. Das heißt: Demonstrationsfreiheit einfordern, die Abschaffung der Todesstrafe. Sie müssen gegen willkürliche Inhaftierungen protestieren und vor allem: sie dürfen diesen Regimen keine Waffen mehr liefern.