Ohnmacht, Ratlosigkeit, Wut und Trauer - schrittweise arbeitet sich Winnenden in eine Normalität zurück, die nicht die alte sein wird.

Winnenden - Man wird die Albertville-Realschule nicht wiedererkennen. Im Herbst kehren die Schüler in das umgebaute Schulhaus zurück, ein neuer Gebäudeteil wird die von Reportern tausendfach abgelichtete Fassade verdecken. Man wolle "das Standbild in den Köpfen" löschen und den Schülern die Chance geben, sich unbefangen und frei zu entwickeln, sagt Winnendens Erster Bürgermeister Norbert Sailer. Die Trauer solle ihren Platz zwar in der Nähe der Tatorte bekommen, nicht aber an der Schule. Man suche noch. Das Planen wird zum Tasten nach Balance - der Balance zwischen erinnern und befreien.

Das Unverständliche ist am 11. März 2009 unerwartet über die Kleinstadt hereingebrochen. Danach war nichts mehr, wie es vorher war, auch das Vorher nicht. "Eine ganze Stadt ist traumatisiert", sagt der Psychologe Thomas Weber, der bis heute Betroffene betreut. Oder, wie es die Winnender Künstlerin Eva Schwanitz ausdrückt: "Das war wie Krieg gschwind." Die Stadt ist nicht mit jener Wucht getroffen worden, wie sie die Hinterbliebenen traf. Aber auch die Gemeinschaft muss das traumatische Ereignis verarbeiten. "Man kann nicht weitermachen wie bisher", sagt die Mutter der getöteten Stefanie Kleisch.

Anteilnahme selbst von Fremden


Man spricht in Winnenden nur vom "Elften", wenn man den Amoklauf meint. Die Morde hatten die Stadt für einen Moment zum Schweigen gebracht. "Wenn man auf den Markt ging, spürte man eine Stille und Verbundenheit; die Händler drückten den Leuten Blumen in die Hand", sagt Schwanitz, die an einem der Gymnasien in der Nachbarschaft der Albertville-Realschule unterrichtet. Doris und Dieter Kleisch berichten von der Warmherzigkeit, die ihnen selbst völlig fremde Leute entgegenbrachten. In ihrem Wohnort Leutenbach bei Winnenden seien die Leute mit ihnen gewesen, selbst beim Bäcker an der Ecke oder in der Schlange an der Supermarktkasse. Dass so viele Anteil nahmen - die Pfarrerin, der Bürgermeister von Leutenbach, viele Bekannte, die sich auf einmal wieder meldeten - habe ihnen Kraft gegeben. "Es sind sogar Freundschaften zu Menschen entstanden, die wir vor dem Amoklauf gar nicht gekannt haben", sagt Doris Kleisch.

"Die Leute sind sehr sensibel im Umgang, man nimmt viel Rücksicht aufeinander", bemerkt Oberbürgermeister Hartmut Holzwarth. Das sagen in Winnenden alle, mit denen man ins Gespräch kommt, auch das Ehepaar Kleisch nimmt das so wahr. "Uns verbindet ein gemeinsames Schicksal", meint Eva Schwanitz. Das Leid habe mehr Mitgefühl gebracht, die Trauer mehr Toleranz, sagt Christel Ludwig, die damalige Leiterin der Volkshochschule. "Die Behandlung von psychischen Krankheiten zum Beispiel ist in dieser Stadt kein Tabuthema mehr. Man geht dann halt zum Arzt so wie einer, der sich das Bein gebrochen hat."