Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Angela Merkel prägte die Bundesrepublik auf eine andere Weise, als sie es einst versprochen hatte. Sie war als deutsches Double von Maggie Thatcher zum Sturm aufs Kanzleramt angetreten. Zwei Jahre bevor sie dort auf dem Chefsessel Platz nehmen durfte, hatte sie den Kompass ihrer Partei neu justiert und diese auf einen neoliberalen Reformkurs gelenkt. Merkel wollte den Sozialstaat entrümpeln, den Kündigungsschutz lockern, Krankenkassen mit Kopfprämien finanzieren und die Pflegeversicherung aus Kapitalerträgen. Ihr Schattenminister für Finanzen warb für eine Einheitssteuer, die auf einem Bierdeckel auszurechnen sein sollte. „Maggie of Mecklenburg“ nannte sie der „Economist“. Aber Merkels vollmundige Reformagenda hätten sie beinahe um die Macht gebracht. Aus Furcht vor dem Wähler hat sie bis heute nichts davon in die Tat umgesetzt.

 

Gleichwohl hat sich Deutschland zum Besseren verändert, seit es von dieser Frau regiert wird. Der kranke Mann Europas, als der die Bundesrepublik 2005 noch galt, wurde in der Ära Merkel zum ökonomischen Kraftprotz. Welchen Anteil sie selbst daran hat, bleibt fragwürdig. Sie profitierte vor allem von den Reformen, die ihr sozialdemokratischer Amtsvorgänger Gerhard Schröder durchgesetzt hatte. Und auch von einer konjunkturellen Glückssträhne.

Nicht nur eine Geschichte des Fortschritts

Wie Deutschland sich in den zwölf Merkel-Jahren gewandelt hat, lässt sich beziffern: Zu Beginn ihrer Amtszeit hat der Bund noch 31,5 Milliarden Euro jährlich an neuen Krediten aufgenommen. Inzwischen kommt er seit vier Jahren ohne zusätzliche Schulden aus. Die Arbeitslosenquote sank von 10,9 auf 5,6 Prozent. Die Zahl der Kita-Plätze für Kinder unter drei Jahren stieg von 284 000 auf 720 000. Der aus Solarenergie, Wasserkraft oder Windrädern gewonnene Strom reichte 2005 gerade mal, um zehn Prozent des Bedarfs zu decken. Heute kommt ein Drittel des Stroms aus Ökoquellen. Als Merkel Kanzlerin wurde, lebten 7,2 Millionen Ausländer in Deutschland, jetzt sind es zwei Millionen mehr. Die Zahl der Zuzüge hat sich von 2005 bis 2015 mehr als verdreifacht.

Niemand würde noch bezweifeln, dass wir in einem Einwanderungsland leben. Vor Merkels Regentschaft war dieses Etikett ein Tabu für ihre Partei. Merkel nötigte die Union zum Umdenken – nicht nur da. Sie hat das Familienbild der C-Parteien auf den Kopf gestellt, eine Revolution in der Kinderbetreuung angestoßen, die Wehrpflicht abgeschafft, den Atomausstieg beschleunigt und in der staatlichen Finanzpolitik den Rückwärtsgang eingelegt. Bis auf den letzten Punkt waren das alles Zumutungen für Konservative.

Es ist aber keineswegs so, als ob sich das Kapitel Merkel in den Annalen der Bundesrepublik wie eine einzige Fortschrittsgeschichte lesen würde. Noch hält auch Merkels Musterland die unter Kohl ausverhandelten Maastricht-Kriterien für solide Staatsfinanzen nicht komplett ein. Der von der öffentlichen Hand aufgeschichtete Schuldenberg ist trotz sprudelnder Steuerquellen höher als er sein dürfte, wenn man die Wirtschaftskraft zur Messlatte nimmt. Zudem haftet Deutschland inzwischen in dreistelliger Milliardenhöhe für die Rettung des Euro. 2008 hatte die Kanzlerin die „Bildungsrepublik“ ausgerufen, sich danach aber nicht mehr mit der gleichen Inbrunst darum gekümmert, wie das wohltönende Wort Wirklichkeit werden könnte. Seit Merkel regiert, ist die Quote der Abiturienten von 38 auf mehr als 50 Prozent geklettert. Die Zahl der Hochschulabsolventen hat sich verdoppelt. Ihr Ziel, die Bildungsausgaben auf sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufzustocken, ist allerdings ein frommer Wunsch geblieben. Sie liegen bei 6,4 Prozent. Die Bildungsrepublik hat vielerorts eine schäbige Fassade.

Angela Merkel prägte die Bundesrepublik auf eine andere Weise, als sie es einst versprochen hatte. Sie war als deutsches Double von Maggie Thatcher zum Sturm aufs Kanzleramt angetreten. Zwei Jahre bevor sie dort auf dem Chefsessel Platz nehmen durfte, hatte sie den Kompass ihrer Partei neu justiert und diese auf einen neoliberalen Reformkurs gelenkt. Merkel wollte den Sozialstaat entrümpeln, den Kündigungsschutz lockern, Krankenkassen mit Kopfprämien finanzieren und die Pflegeversicherung aus Kapitalerträgen. Ihr Schattenminister für Finanzen warb für eine Einheitssteuer, die auf einem Bierdeckel auszurechnen sein sollte. „Maggie of Mecklenburg“ nannte sie der „Economist“. Aber Merkels vollmundige Reformagenda hätten sie beinahe um die Macht gebracht. Aus Furcht vor dem Wähler hat sie bis heute nichts davon in die Tat umgesetzt.

Gleichwohl hat sich Deutschland zum Besseren verändert, seit es von dieser Frau regiert wird. Der kranke Mann Europas, als der die Bundesrepublik 2005 noch galt, wurde in der Ära Merkel zum ökonomischen Kraftprotz. Welchen Anteil sie selbst daran hat, bleibt fragwürdig. Sie profitierte vor allem von den Reformen, die ihr sozialdemokratischer Amtsvorgänger Gerhard Schröder durchgesetzt hatte. Und auch von einer konjunkturellen Glückssträhne.

Nicht nur eine Geschichte des Fortschritts

Wie Deutschland sich in den zwölf Merkel-Jahren gewandelt hat, lässt sich beziffern: Zu Beginn ihrer Amtszeit hat der Bund noch 31,5 Milliarden Euro jährlich an neuen Krediten aufgenommen. Inzwischen kommt er seit vier Jahren ohne zusätzliche Schulden aus. Die Arbeitslosenquote sank von 10,9 auf 5,6 Prozent. Die Zahl der Kita-Plätze für Kinder unter drei Jahren stieg von 284 000 auf 720 000. Der aus Solarenergie, Wasserkraft oder Windrädern gewonnene Strom reichte 2005 gerade mal, um zehn Prozent des Bedarfs zu decken. Heute kommt ein Drittel des Stroms aus Ökoquellen. Als Merkel Kanzlerin wurde, lebten 7,2 Millionen Ausländer in Deutschland, jetzt sind es zwei Millionen mehr. Die Zahl der Zuzüge hat sich von 2005 bis 2015 mehr als verdreifacht.

Niemand würde noch bezweifeln, dass wir in einem Einwanderungsland leben. Vor Merkels Regentschaft war dieses Etikett ein Tabu für ihre Partei. Merkel nötigte die Union zum Umdenken – nicht nur da. Sie hat das Familienbild der C-Parteien auf den Kopf gestellt, eine Revolution in der Kinderbetreuung angestoßen, die Wehrpflicht abgeschafft, den Atomausstieg beschleunigt und in der staatlichen Finanzpolitik den Rückwärtsgang eingelegt. Bis auf den letzten Punkt waren das alles Zumutungen für Konservative.

Es ist aber keineswegs so, als ob sich das Kapitel Merkel in den Annalen der Bundesrepublik wie eine einzige Fortschrittsgeschichte lesen würde. Noch hält auch Merkels Musterland die unter Kohl ausverhandelten Maastricht-Kriterien für solide Staatsfinanzen nicht komplett ein. Der von der öffentlichen Hand aufgeschichtete Schuldenberg ist trotz sprudelnder Steuerquellen höher als er sein dürfte, wenn man die Wirtschaftskraft zur Messlatte nimmt. Zudem haftet Deutschland inzwischen in dreistelliger Milliardenhöhe für die Rettung des Euro. 2008 hatte die Kanzlerin die „Bildungsrepublik“ ausgerufen, sich danach aber nicht mehr mit der gleichen Inbrunst darum gekümmert, wie das wohltönende Wort Wirklichkeit werden könnte. Seit Merkel regiert, ist die Quote der Abiturienten von 38 auf mehr als 50 Prozent geklettert. Die Zahl der Hochschulabsolventen hat sich verdoppelt. Ihr Ziel, die Bildungsausgaben auf sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufzustocken, ist allerdings ein frommer Wunsch geblieben. Sie liegen bei 6,4 Prozent. Die Bildungsrepublik hat vielerorts eine schäbige Fassade.

Merkel hat ihren eigenen Stil

Merkel ließ sich als Klimakanzlerin feiern. Klimaschützer halten ihre Ökobilanz aber für dürftig. Der Ausstoß an Treibhausgasen, der bis 2020 um 40 Prozent gedrosselt werden sollte, hat neuerdings sogar wieder zugenommen. Zudem hat Angela Merkels abrupte Energiewende einen hohen Preis. Der beläuft sich inzwischen auf mehr als 150 Milliarden Euro, wie der Ökonom Justus Haucap vorrechnet. Die von Verbrauchern abkassierte Ökostrom-Umlage hat sich unter Merkel verdoppelt.

Auch Feministinnen werden von der mächtigsten Frau der Welt enttäuscht sein. „Wir sind Kanzlerin“, jubelten manche von ihnen, als Merkel erstmals die Wahl gewann. Dabei hatte sie parteiintern früh klargestellt, dass Muttis Regiment nicht mit dem Matriarchat zu verwechseln sei. Ein Zeitalter beschleunigter Emanzipation ist mit Merkels Kanzlerschaft jedenfalls nicht angebrochen. Die Vorkämpferinnen von Frauenquoten fanden bei Merkel nicht die stärkste Stütze. Das Stichwort „Feminismus“ fehlt in einem jüngst erschienenen Merkel-Lexikon. Und als sie kürzlich gefragt wurde, ob sie sich für eine Feministin halte, musste sie lange überlegen und ließ sich eine wachsweiche Antwort entlocken.

Auch die Nichtinszenierung ist inszeniert

Wo Merkel in der Politik Regie führt, herrscht dennoch ein anderer Stil – weniger Paviangehabe, dafür mehr Langeweile. Sie hat die Politik entdramatisiert. Pathos ist ihr fremd. Ein „Basta“ käme ihr nie in den Sinn. Schlauer zu sein und sich in den Details komplexer Sachverhalte besser auszukennen, ist ihr wichtiger als fulminante Auftritte. Merkel gilt als Prototyp einer Politik, die auf Inszenierung verzichtet. Es wäre aber naiv zu glauben, dass diese Nichtinszenierung nicht inszeniert sei.

Wegen ihrer Vergangenheit als Naturwissenschaftlerin wird Merkel ab und an als Physikerin der Macht bezeichnet. Das ist ein grobes Missverständnis. Die nachhaltigsten Entscheidungen ihrer Amtszeit hat sie eher aus dem Bauch heraus getroffen: die Kehrtwende beim Atomausstieg und ihre Willkommenspolitik beim Flüchtlingsansturm 2015. Beides war keineswegs „vom Ende her gedacht“, was ansonsten als charakteristisch für Merkels Politikstil gilt.

Ihr Reformeifer ist verpufft

Deutschlands erste Kanzlerin hat die politische Geografie unserer Republik neu verortet. Die CDU ist mit der Mitte unserer Gesellschaft nach links gewandert – und Merkel dabei vorweg marschiert. Damit eröffnete sie einen Freiraum, auf dem sich Rechtspopulisten einnisten konnten. Sie hat den politischen Diskurs entpolarisiert, ihre Partei entkernt. Prinzipientreue ist keine ihrer Tugenden. Die CDU ist dank Merkels Modernismus nun zwar anschlussfähig in alle Richtungen, ihre Besonderheit im Parteienspektrum aber kaum noch erkennbar. Das wird erst zum Problem, wenn Merkel weg ist. Denn im Moment ist sie ihre Besonderheit. Merkel folgt dem Prinzip der Wendigkeit Adenauers, über den der Historiker Arnulf Baring berichtet: Es habe ihm nichts ausgemacht, seine Standpunkte „von einem auf den anderen Tag zu ändern und, darauf angesprochen, indigniert zu entgegnen, niemand könne ihn doch schließlich daran hindern, alle Tage klüger zu werden“. Manchen mag das souverän erscheinen.

Merkel begann als forsche Reformpropagandistin. Nun ist die Raute ihr Markenzeichen: eine Geste, die zunächst eher Unsicherheit ausdrückte, vielen aber als Sinnbild der Unerschütterlichkeit gilt. So fand Merkel zu einer „Politik der ruhigen Hand“ – ein Vorwurf, der einst ihrem Vorgänger Schröder angelastet wurde. Ihr Reformeifer ist verpufft.

Generation Merkel

Nach zwölf Jahren Merkelismus ist erstmals eine Generation zum Wählen aufgerufen, die sich an keinen anderen Kanzler erinnert. So kommt es wohl, dass die Mehrheit der Erstwähler sich nur Merkel als Kanzlerin vorstellen mag. „Vielleicht ist die Generation Merkel eine der neuen Spießer – so what?“ schreibt eine Vertreterin dieser Alterskohorte für „Bento“, die Nachwuchsplattform von „Spiegel Online“. „Für uns klingt Stabilität eben eher verlockend. ,Weiter so‘ ist auch eine Haltung.“