Im CDU-Wahlkampf wird die Persönlichkeit der Kanzlerin zur Botschaft. Angela Merkel ist nahbar, uneitel und niemals laut. Das macht sie beliebt. Und ihre Auftritte im Wahlkampf werden so zu einem Erfolg.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Der Kanzlerin zuliebe gesteht Horst Seehofer sogar eine Todsünde. Er sei neidisch auf Angela Merkel, sagt der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident. Ihre Beliebtheitswerte werde er nie erreichen. Als die beiden am Sonntagnachmittag in den Düsseldorfer ISS Dome einziehen, rauscht Beifall durch die Halle. Aber der Beifall ist bestellt und stundenlang eingeübt. Er wird von wuchtigem Getrommel und dröhnenden Lautsprechern übertönt. Es klingt fast, als sei die Wahl schon gewonnen. Wenn der Andrang an den Urnen in zwei Wochen ähnlich sein wird wie hier, dann könnte es aber noch einmal knapp werden. Hunderte von Sitzplätzen bleiben leer bei diesem Selbstberauschungsfestival zum Start in den Endspurt des Wahlkampfs.

 

Jeder Besucher bekommt in Düsseldorf ein Plakat in die Hand gedrückt. „Cool bleiben und Merkel wählen“ steht darauf zu lesen. Das Spektakel im ISS Dome ist dazu gedacht, die eigenen Truppen aufzuputschen, während Merkels Wahlkampf eher darauf aus zu sein scheint, den Anhang der Konkurrenz einzuschläfern. Inzwischen kommen Zweifel auf, ob auf diese Weise nicht auch das unionsnahe Publikum zu sehr sediert wird. Wer auch immer sich dazu äußert: Bei den Wahlkämpfern ist die Sorge groß, dass am 22. September viele Unionswähler zu Hause bleiben könnten, weil sie glauben, die Wahl sei schon gelaufen. Merkel selbst gibt sich keineswegs siegesgewiss. Sie führt sich auf wie Kassandra höchstpersönlich, warnt vor einem „bösen Erwachen“. Es gehe um jede Stimme. Das Echo ist matt, keineswegs so, wie es die vielen Angie-Pappschilder auf den Rängen glauben machen könnten.

Vor vier Jahren hatte Angela Merkel die alte Bundeshauptstadt zum Schauplatz ihres spektakulärsten Wahlkampfauftritts erkoren. Sie unternahm von dort aus eine Tour durch die Republik mit dem legendären Rheingold-Express – ganz im Stile des Altkanzlers Konrad Adenauer. Er hatte in Bonn seinen Wahlkreis. Wo die Erfolgsgeschichte der CDU ihren Anfang nahm, wollte Merkel auf den Zug aufspringen. Inzwischen glaubt sie offenbar, solche Ausflüge in die Geschichte nicht mehr nötig zu haben. Sie ist selbst die Lokomotive des Erfolgs ihrer Partei. „Auf den Kanzler kommt es an“, hatten die Unionisten einst großflächig plakatiert. Jetzt gibt es für sie nur noch die Kanzlerin. Der CDU-Wahlkampf ist Merkel-Propaganda.

Die mächtigste Frau als nette Nachbarin von nebenan

Die Kampagne führt sie auch 2013 wieder nach Bonn. Diesmal nicht zum Bahnhof, sondern auf den Marktplatz. Wie Merkels Wahlkampf funktioniert, lässt sich dort im Kleinen beobachten: Ein Ehepaar steht vor einem Plakat der Kanzlerin. Die beiden betrachten es eingehend und rücken dem überdimensionalen Foto so nahe, dass sie es fast mit der Nase berühren. Sie diskutieren angeregt, was es da zu sehen gibt – Merkels Falten. Sie sind nicht wegretuschiert, wie es auf solchen Bildern üblich ist. Merkel, die Unnahbare, zelebriert Nähe. So ist auch ihr Wahlwerbespot im Fernsehen angelegt. Er holt die Zuschauer ganz dicht heran an die Kanzlerin, als würden sie bei ihr zu Hause auf dem Sofa sitzen. Er zeigt ihr Gesicht, ihre Hände, ihre Augen und die markanten Mundwinkel in Großaufnahme: einen Menschen, gezeichnet von den Strapazen der Macht. Es ist Merkels privatester Wahlkampf. Ihre Persönlichkeit wird zur Botschaft.

Die Rokokofassade des alten Bonner Rathauses wird von dem prächtig kolorierten Stadtwappen beherrscht. Über dem Wappen schwebt eine goldene Krone. Direkt unter dieser Krone ist die Bühne für Merkel aufgebaut. „Königin von Deutschland“ hat sie der „Spiegel“ tituliert. So dürfte sie sich auch fühlen. Merkel schwebt auf einer Wolke von Popularität. Unklar ist, wie weit die trägt.

Sie mag bei ihren Auftritten angehimmelt werden wie die gekrönten Häupter in den Illustrierten, die beim Friseur ausliegen. Doch Merkel pflegt keinerlei Allüren. Sie benimmt sich wie die Nachbarin von nebenan, die etwas auf ihre Rouladen und ihre Kartoffelsuppe hält und damit leben muss, dass ihrem Mann „immer zu wenig Streusel auf dem Kuchen“ sind. So steht es in einer Wahlkampffibel zu lesen, die CDU-Politik zu einer Art Poesiealbum der Kanzlerin reduziert. Eine Million Exemplare davon werden unter die Leute gebracht. Merkel gilt als „mächtigste Frau der Welt“. Doch sie führt sich nicht auf wie ein Machtmensch. Imponiergehabe und wichtigtuerische Gesten sind ihr fremd. Sie werde „niemals laut, niemals verletzend“, sagt Ursula von der Leyen, die es wohl schon zu spüren bekommen hätte, wenn es anders wäre. Horst Seehofer warnt aber: „Wer sie unterschätzt, hat schon verloren.“ Und der Politveteran Michel Glos weiß: „Sie ist in der Lage, ihre Uneitelkeit als Waffe einzusetzen.“

Merkel spricht schlicht und verständlich – das kommt gut an

Sie muss den Leuten nicht nach dem Munde reden, hat sich aber auch abgewöhnt, von Dingen zu sprechen, die als bedrohlich empfunden werden könnten. Vor acht Jahren war das noch anders. Da war sie als eine kaltherzige Reformerin angetreten. Das hätte sie beim Aufstieg ins Kanzleramt beinahe stolpern lassen. Jetzt gestattet sie sich allenfalls noch kleine Zumutungen. Ausgerechnet im Rheinland gesteht sie zum Beispiel, wenig Begeisterung für den Karneval aufzubringen. Sie sagt: „Ich will jetzt nicht so tun, als sei das meine Herzensangelegenheit.“

Merkels Herzensangelegenheit ist es, sich an der Macht zu behaupten. „Wir wollen Ihnen nichts mitteilen, wir wollen mit Ihnen ins Gespräch kommen“, sagt der Bonner CDU-Chef Philipp Lerch, bevor die Kanzlerin das Wort ergreift. Ihre Auftritte sind eher Plauderstunden als Agitation. Sie redet wenig über Politik. Wenn sie es doch tut, dann vermeidet sie die Sprache der Politiker, deren abgedroschene Floskeln, ihr Kauderwelsch, das nur Eingeweihte verstehen. „Ihre Sätze klingen nicht so, als wären sie schon fertig gewesen, bevor sie gesagt wurden“, lobt der Schriftsteller Martin Walser. Sie spricht eher über Denkmuster als über konkrete Ziele – etwa über den Vorsatz, „denen, die erfolgreich sind, nicht als Erstes wieder wegzunehmen, was sie erreicht haben, weil sie erfolgreich sind“.

So ist das auch in Oranienburg, wo Merkel zwei Wochen vor der Wahl vorbeikommt. „Viel Spaß mit der Kanzlerin“, ruft Petra Zieger, zu DDR-Zeiten eine Art Tina Turner des Ostens. Sie bestreitet das Vorprogramm. Als Merkel die Bühne betritt, wird sie zunächst zu den Ergebnissen des Gipfeltreffens in Moskau befragt. Sie gibt weltmännisch Auskunft, unterbricht sich aber selbst nach einigen Minuten: „Jetzt bin ich schon wieder so ernst geworden.“ Dann plaudert sie erst einmal über das Fußballspiel gegen Österreich am Abend zuvor, rätselt ein bisschen, ob Thomas Müller auch das erste Tor geschossen habe. Oder Özil? Dann kommt sie doch noch auf Klose. Und schließlich sogar wieder auf die Politik. Sie spricht aber mehr über das, was die Politik alles nicht könne, was man von ihr nicht erwarten dürfe, was sie besser Unternehmern oder den Tarifpartnern überlassen solle. Etwa den Mindestlohn festzulegen. „Ein bisschen mehr Gerechtigkeit“ hier und auch bei den Mütterrenten. Ansonsten wird Angela Merkel sehr wolkig. Die Leute haben ja ohnehin gelernt, dass diese Kanzlerin im Zweifelsfall gerne mal das Gegenteil dessen macht, was sie angekündigt hatte. Seit Fukushima und der Eurokrise hat das Wahlvolk mit Merkels Pragmatismus und ihrer Prinzipienvergessenheit offenbar zu leben gelernt.

„Mutter der Nation“

Es gebe „eine alte und eine neue Rhetorik“, sagt eine, die zu Merkels Schwestern im Geiste zählt. „Die alte Rhetorik war so, wie Roland Koch und Friedrich Merz gesprochen haben.“ Das habe die Partei begeistert. Aber die Passanten auf den Marktplätzen hätten sich kopfschüttelnd abgewendet. Merkel hat eher die Passanten im Blick – die politikferne Mehrheit.

„In erster Linie geht es nicht um Politiker, sondern um Sie“, beschwört sie ihre Zuhörer im Wahlkampf wieder und wieder. So beginnt sie auch ihre Rede in Oranienburg: „Das Wichtigste bei der Wahl sind nicht wir.“ Sie spielt mit der Politikverdrossenheit, tut so, als gehe es bei ihrem Wahlkampf gar nicht vorrangig um Politik, sondern um eine Entscheidung der Bürger. Und nebenbei kaschiert Merkel damit auch, wie wenig sie den Wählern versprechen will. Sie lässt die Parteichefin weit hinter die Kanzlerin zurücktreten. Und die Kanzlerin klingt eher wie eine Art Übermutter der Nation – sehr nachsichtig und sehr geduldig, sofern es nicht um die Schuldensünder in Europa geht.

Ihren Wahlappell formuliert sie wie einen Wunschzettel: „Ich würde gerne Ihre Bundeskanzlerin bleiben.“ Dann folgt noch ein typisch Merkel’scher Nachsatz. Sie wisse schon, dass manche der Meinung seien, dass es bei ihr ein bisschen dauere, bis sie etwas entscheide, sagt Merkel und fügt dann hinzu: „Ich denk halt erst nach.“

Merkel regiert das Land seit nunmehr acht Jahren. Sie führte zwei grundverschiedene Koalitionen. Viele würden ihr zutrauen, auch mit einer dritten fertig zu werden. Wenn sie sich im Amt behaupten kann, hätte sie den Zenit ihrer Macht erreicht. Über Merkels Platz in den Geschichtsbüchern wird der weitere Verlauf der Eurokrise entscheiden. Ihr selbst seien solche Überlegungen fremd, heißt es aus ihrem Umfeld. Merkel sei „kein Mensch, der in historischen Überschriften denkt“, sie halte Politik für „keine Ego-Show“. Sie ist sich aber wohl bewusst, dass ihre Macht ein Verfallsdatum hat. Nicht gleich nach der Wahl, aber bald danach werden Debatten aufkommen, die auf die Frage zielen, wer ihr einmal nachfolgen könne.

„Den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg finden“

Sie selbst hat über solche Fragen schon nachgedacht, als sie noch nicht ahnen konnte, dass sie eines Tages Kanzlerin werden würde. Vor 15 Jahren sprach sie darüber mit der Autorin Herlinde Koelbl. Und Merkel verweist immer wieder auf ihre freimütigen Auskünfte von damals. Ihre Ansichten hätten sich nicht geändert: „Ich möchte irgendwann den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg finden“, sagte sie damals und fügte hinzu. „Dann will ich kein halbtotes Wrack sein.“

So weit ist es noch nicht. Auf der Bühne in Düsseldorf wird die Kanzlerin von der Moderatorin gefragt, wie sie es bloß schaffe, dass man ihr den Wahlkampfstress überhaupt nicht ansehe. Ihre Antwort steht für sich: Das müsse an der deutschen Kosmetikindustrie liegen, sagt Merkel. Die sei wohl „einigermaßen in Ordnung“.