Um die Frage, ob der Spiegel-Kolumnist Jakob Augstein ein Antisemit sei, ist ein bizarrer Streit entbrannt. Das schlimmste ist, dass darin das Grundmuster der antisemitischen Argumentation unter veränderten Vorzeichen wiederkehrt.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Zu Zeiten, in denen Harald Schmidt noch zusammen mit Oliver Pocher an den Außengrenzen des Geschmacks operierte, bedienten sie sich eines sogenannten „Nazometers“, um die Geschichtskontamination deutschen Alltagslebens auf den Prüfstand zu stellen. Das ernste Ergebnis ihres satirischen Experiments erwies, dass kein Begriff frei von Konnotationen ist, so man nur nach ihnen sucht. „Wie geschmacklos und verroht muss man sein, den Massenmord als Gag-Nummer zu benutzen?“, wandte damals Salomon Korn vom Zentralrat der Juden durchaus nachvollziehbar gegen die Nummer ein. Offensichtlich aber verfügt das renommierte Simon Wiesenthal Center über ein vergleichbares Gerät, wie sonst hätte es jenes Ranking wissenschaftlich hieb- und stichfest machen können, das die zehn schlimmsten Antisemiten des Jahres in aufsteigender Reihenfolge benennt, darunter auf Platz neun den „Spiegel-Online“-Kolumnisten Jakob Augstein.

 

Nun, wie sich zeigt, vertraute das Institut weniger den Diensten eines Nazometers als auf die Empfehlungen des Publizisten Henryk M. Broder. Und der macht nicht viel Federlesens, wenn es darum geht, einen Kritiker Israels des Antisemitismus zu zeihen. Augstein etwa, in der Tat ein erbitterter Kritiker der israelischen Siedlungspolitik und der Regierung Netanjahu, hätte seiner Ansicht nach sogar einen Platz im oberen Drittel der Liste verdient, in der Nähe des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad, noch vor den ungarischen Rechtsextremisten der Jobbik-Partei. Auch wenn man die Aussagekraft der Liste nicht überbewerten solle, so Broder, für einen „gelungenen PR-Gag“ hält er sie allemal – eine Erklärung, die Salomon Korn freilich so wenig freuen dürfte wie die einstigen Späße um das Nazometer.

Nein, so absurd die Idee eines Antisemiten-Castings für sich allein erscheint, Grund zur Freude haben angesichts dieses grotesken Schlagabtauschs im medialen Feiertagsloch allenfalls jene tatsächlichen Antisemiten, die sich in unserer Gesellschaft seriösen Erhebungen und alltäglichem Augenschein zufolge wirklich immer ungenierter behaupten. Denn wenn jeder in Broder’scher Schnellpromotion zum Antisemiten befördert werden kann, verliert der Begriff seine Nennkraft.

Grundmuster der antisemitischen Argumentation kehrt wieder

Genau hier aber verbirgt sich ein merkwürdiges Paradox. Wo die Begriffe unscharf geworden sind, die Sachverhalte unübersichtlich, sehnt man sich nach klaren Bedeutungen. Darin liegt die fatale Versuchung jedes Nazivergleiches, und der Antisemitismusvorwurf ist nur eine seiner Ausprägungen: Der Holocaust wird sprachlich instrumentalisiert als eine Art Nordpol der Bedeutungswerte, alles mag relativ sein, aber hier sollte die Nadel klar ausschlagen, es sei denn das Instrument ist kaputt. Autoren wie Broder aber gehen mit der vom Leid der Juden und der deutschen Schuld gedeckten Währung um wie fahrlässige Bankiers. Um sich von Einzelheiten, lästigen Details zu dispensieren, vielleicht auch nur um ein mediales Geltungsbedürfnis auszutoben, nehmen sie eine Inflation elementarer Bedeutungswerte billigend in Kauf. Und öffnen damit eben jenem politischen Relativismus Tür und Tor, den sie vorgeben zu bekämpfen.

Das schlimmste aber ist, dass darin das Grundmuster der antisemitischen Argumentation unter veränderten Vorzeichen wiederkehrt. Der Einzelne mag in der Sache sagen und argumentieren, was er will: gegen das Abstraktum „Antisemit“ bleibt er so machtlos wie zu anderen Zeiten gegen das des „Juden“.

Der Terror leerer Generalbegriffe ersetzt die besonnene Prüfung der Standpunkte. Genau von ihr aber hinge alles ab.