Die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel erlebte deutsche Wiedervereinigung als Bruch in ihrem Leben, der ihre Wahrnehmung der Welt veränderte. Aber er kam für die damals 15-Jährige zu einer Zeit, in der sie ihn als Chance nutzen konnte.

Wie schön, dass Antje Rávic Strubel Eis mag! Sonst hätte dieses Interview vielleicht gar nicht erscheinen können. Denn in Berlin herrschte infernalischer Stau, und dann stotterte auch noch die S-Bahn. Die Redakteurin kam 20 Minuten zu spät zum Treffpunkt am Bahnhof Potsdam-Babelsberg. Gerade wollte Strubel sich zum Gehen wenden. Aber dann kaufte sie sich erst mal zwei Riesenkugeln Eis in der Waffel. Und so trafen die beiden sich dann doch noch und konnten über 25 Jahre Deutsche Einheit reden. Manchmal liegt das Glück der Reporterin in der Erfindung von Stracciatella.
Frau Strubel, was machen Sie am 3. Oktober?
Ich bin in der Schweiz. Der Tag hat für mich nicht so eine große Relevanz. Es ist der Tag eines Vertrages, in dem von einer Wiedervereinigung die Rede ist. Den Begriff finde ich merkwürdig. Denn für beide „vereinigten“ Länder fand das unter sehr verschiedenen Voraussetzungen statt, beide funktionierten ganz unterschiedlich. Bei diesem Prozess ist eigentlich etwas Drittes, Neues entstanden. Der Mauerfall hat für mich eine größere Bedeutung.
Da waren Sie 15. Erinnern Sie sich an diese Nacht des 9. November?
Ich war in Ludwigsfelde in meinem Kinderzimmer, im Neubaublock. Morgens hat mein Vater mich früher als gewöhnlich geweckt, weil er die Nachrichten gehört hatte. Was da passierte, war irreal. Aber ich ging wie gewohnt zur Schule, nur wenige Klassenkameraden blieben weg. Gleichzeitig erfasste meine Mutter die Dramatik der Situation. Sie war auf Kur an der Ostsee. Sie stand über Stunden Schlange an einer Telefonzelle, um uns anzurufen und zu sagen: Geht rüber, ich komm schon irgendwie nach. Meine Eltern waren sich sicher, die machen die Mauer wieder zu.
Gab es in Ihrer Familie vor dem Mauerfall den Plan, auszureisenden?
Dieser Gedanke war lange Zeit da. Mein Vater war Englischlehrer an der Hochschule. Seine Karriere war in der Sackgasse, weil er nicht in die Partei eintreten wollte. Wenn wir in Urlaub fuhren, nach Ungarn oder Tschechien, hatte er immer alle Papiere dabei, auch Zeugnisse. Was meine Eltern schließlich zurückhielt, war die Gefährdung von uns Kindern. Das Unkalkulierbare. Menschen, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, waren vogelfrei. Man hätte ihnen die Kinder wegnehmen können, wir wären im Heim gelandet.