Erste Bauern sowie Jäger und Sammler aus verschiedenen Regionen der Erde prägen das Erbgut der Europäer. Auch das Erbgut einer Bäuerin aus Stuttgart, die vor etwa 7000 Jahren starb, leistete einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung des europäischen Stammbaums.

Stuttgart - Europa war schon vor einigen Jahrtausenden ein Schmelztiegel verschiedener Bevölkerungsgruppen. Zu den alteingesessenen Jägern und Sammlern Mitteleuropas kamen vor ungefähr 7000 Jahren Bauern mit Wurzeln im Nahen und Mittleren Osten. Mindestens 2000 Jahre später kamen möglicherweise aus den Steppen im Osten Europas und im Norden Asiens weitere Menschen hier an, deren verwandtschaftliche Bande bis zu den Indianern Amerikas reicht. Das schließen Johannes Krause von der Universität Tübingen, David Reich von der Harvard-Universität im US-amerikanischen Boston und mehr als hundert Kollegen aus aller Welt in der Fachzeitschrift „Nature“ aus einem Vergleich des Erbguts von Bauern und Jägern der Steinzeit sowie von Menschen des 21. Jahrhunderts.

 

„Ursprünglich wollten wir eine Kontroverse über die Herkunft der ersten europäischen Bauern lösen“, erinnert sich der Tübinger Professor Johannes Krause, der auch noch Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Geschichte und Naturwissenschaften in Jena ist. Deren Geschichte beginnt einige Jahrtausende früher in einem halbmondförmigen Gebiet zwischen dem heutigen Iran und Irak über den Süden der Türkei bis nach Syrien. In diesem „Fruchtbaren Halbmond“ hatten die Menschen der Steinzeit vor mehr als zehntausend Jahren die ersten Methoden der Landwirtschaft entdeckt. Vor ungefähr siebentausend Jahren erreichten Ackerbau und Viehzucht dann auch Mitteleuropa, sind sich Steinzeit-Archäologen einig. Ob damals aber Bauern einwanderten oder ob die bereits seit Jahrtausenden hier lebenden Jäger und Sammler die Landwirtschaft und ihre Methoden einfach von ihren Nachbarn übernahmen – also nur die Methode, nicht aber die Menschen nach Mitteleuropa kamen –, das wusste bisher niemand so genau.

Eine Bäuerin aus Stuttgart

Die Antwort auf diese Frage sollte im Erbgut der Beteiligten zu finden sein. Auf einem Steinzeitfriedhof beim Viesenhäuser Hof im Stuttgarter Stadtteil Mühlhausen hatten Archäologen bereits Anfang der 1990er Jahre 84 Skelette ausgegraben, die vor rund 7000 Jahren dort bestattet worden waren. „Diese Menschen gehörten zu den ersten Bauern, die in Mitteleuropa auftauchten“, erklärt Johannes Krause. Aus einem Backenzahn einer etwa im Alter von 20 bis 30 Jahren verstorbenen Frau isolierten die Tübinger Forscher deren Erbgut und analysierten es. Dessen DNA-Sequenz zeigte eine starke Ähnlichkeit mit dem Erbgut des Steinzeitmannes Ötzi, der fast 2000 Jahre später an der Grenze zwischen dem heutigen Südtirol und Tirol ums Leben gekommen war. Offensichtlich ähnelte sich also das Erbgut der Steinzeit-Bauern sehr, zu denen auch Ötzi gehörte. Das bestätigen auch bereits früher ermittelte DNA-Sequenzen von Bauern, die vor ungefähr 5000 Jahren den Süden Schwedens erreichten.

3000 Jahre früher und damit vor rund 8000 Jahren lebten in dieser Region bereits Jäger und Sammler. Sie bestatteten ihre Toten am Grund eines kleinen Sees etwa einen halben Meter unter Wasser. Zwischen 2009 und 2013 gruben Archäologen diesen Steinzeit-Friedhof in der Stadt Motala in Südschweden aus. Das Erbgut aus neun Zähnen und je einem Schienbein- und Oberschenkelknochen verschiedener Individuen analysierten dann die Tübinger Forscher. Ebenfalls vor rund 8000 Jahren lebte ein Jäger und Sammler dort, wo heute Luxemburg liegt. Seine Überreste wurden bereits 1935 entdeckt. Und erneut untersuchten die Tübinger Paläogenetiker das Erbgut aus einem seiner Zähne.

Techtelmechtel mit Einheimischen

Ein Vergleich der so gewonnen Sequenzen bestätigte dann eine dritte Theorie über die Ankunft der Landwirtschaft in Europa: Die Menschen aus dem Fruchtbaren Halbmond hatten sich durchaus auf den Weg nach Europa gemacht. Unterwegs aber scheinen sie sich immer wieder einmal mit den Einheimischen eingelassen zu haben. „Ein wenig mehr als die Hälfte des Erbguts der ersten Bauern Mitteleuropas stammt von den Jägern und Sammlern Europas“, fasst Johannes Krause dieses Ergebnis zusammen. Vor allem im Karpatenbecken im heutigen Ungarn könnte es zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen immer wieder einmal gefunkt haben. Dort war der Zug der Landwirtschaft Richtung Mitteleuropa für ein halbes Jahrtausend zum Stehen gekommen. Die Bauern hatten dort also reichlich Zeit, Jäger und Sammler zu treffen, die schon seit Jahrtausenden in dieser Gegend lebten.

Die Spuren dieser Steinzeitmenschen finden die Forscher dann auch im Erbgut von 2345 Menschen des 21. Jahrhunderts: „Rund 40 Prozent des Erbguts der Menschen im heutigen Mitteleuropa stammen von den europäischen Jägern und Sammlern, weitere 50 Prozent kommen von den frühen steinzeitlichen Bauern“, berichtet Krause. Beide gehören also zu unseren Ahnen. Wo aber kommen die restlichen zehn Prozent des Erbguts der Mitteleuropäer her? Die Forscher standen zunächst vor einem Rätsel. Irgendwo muss eine dritte, bisher unbekannte Gruppe von Menschen gelebt haben, die zu unseren Ahnen gehört.

Sensation vom Baikalsee

Das Anfang 2014 veröffentlichte Erbgut eines Kindes, das vor ungefähr 24 000 Jahren in der Region um den Baikalsee in Sibirien gestorben war, brachte dann die Sensation. Seine DNA-Sequenz lieferte nicht nur die bisher „fehlenden“ sieben bis zehn Prozent der Erbinformationen im Genom der Mitteleuropäer, sondern zeigte auch eine deutliche Verwandtschaft mit den Indianern Amerikas. Daraus aber können sich die Forscher die Heimat dieser geheimnisvollen und bisher weitgehend unbekannten Menschengruppe zusammenreimen: Sie lebte offensichtlich in den kalten Steppen, die vom Nordosten Europas bis weit in äußersten Ostens Sibiriens reichten.

In der Eiszeit gab es dort eine hunderte von Kilometern breite Landbrücke nach Alaska, über die diese Menschen später nach Nordamerika gelangten. Ganz im Westen dagegen hatten diese Bewohner der nordeurasischen Steppen bereits geringe Spuren im Erbgut der Jäger und Sammler hinterlassen, die vor 8000 Jahren in Südschweden lebten. Weder im Erbgut des Luxemburger Jägers noch von Ötzi noch der Bäuerin aus Stuttgart aber finden sich Hinweise auf diese Nord-Eurasier.

Steppenbewohner kamen nach Europa

Sehr wohl aber finden sich die Spuren des Erbguts des Kindes vom Baikalsee in heutigen Indianern und Europäern: „Rund 20 Prozent der DNA der Menschen im Baltikum kommt von diesen nordeurasischen Steppenbewohnern, in Mitteleuropa sind es sieben bis zehn Prozent und in Sardinien gerade noch ein Prozent“, erklärt Krause. Die Menschen auf dieser Mittelmeer-Insel scheinen ohnehin bis heute relativ isoliert vom Rest Europas zu leben. Ihr Erbgut ähnelt noch heute sehr stark dem Genom von Ötzi und der Stuttgarter Bäuerin.

„Vor weniger als 5000 Jahren kamen dann die Steppenbewohner Nordeurasiens in den Rest Europas“, vermutet Johannes Krause. Möglicherweise brachten sie auch die unter Archäologen gut bekannte Kultur der Schnurkeramik mit. Mit Sicherheit aber hinterließen sie deutliche Spuren in unserem Erbgut. Und erklären damit auch die verwandtschaftlichen Bande zwischen Europäern und Indianern, über die Genetiker schon seit einigen Jahren rätseln.

Haut und Landwirtschaft

Erbgut Die Stuttgarter Bäuerin hatte vor rund 7000 Jahren bereits helle Haut und braune Augen. Der Luxemburger Jäger dagegen war vor 8000 Jahren dunkelhäutig, hatte aber blaue Augen. Das schließt Johannes Krause von der Universität Tübingen aus dem Erbgut dieser beiden Menschen.

Anpassung Die helle Haut könnte eine Anpassung an die Landwirtschaft sein: Während Jäger mit dem Fleisch der Tiere genug des lebenswichtigen Vitamins D aufnehmen, leiden Bauern in Mittel- und Nordeuropa eher unter Vitamin-D-Mangel. Dagegen hilft helle Haut, in der das Sonnenlicht auch in der dunklen Jahreszeit aus Vorstufen das wichtige Vitamin D produziert.