Der Sommer 2004 war, der Leser weiß es, nicht schlimmer als all die Jahreszeiten, die ihm gefolgt sind. Aber der junge Mann hat sich gegen den Andrang des Bösen in der Welt noch keinen Panzer zugelegt. Alles geht durch ihn hindurch wie der Verkehrslärm vor seinem WG-Zimmer, wie die Trommeln in der Nacht vom anderen Ufer des Kanals, in dem der Wienfluss vegetiert. Leere, die Befreiung vom anstrengenden Nachdenken, ist das, was er beim Karatetraining sucht. Leere ist es, was er am Zwergflusspferd, dem anderen Bestandteil des Romantitels, wahrnimmt und wertschätzt, die kreatürliche Leere eines großen, friedlichen, langsamen Tiers, für das er einen Sommer lang zuständig ist.

 

Das Flusspferd, quasi gestrandet bei Aikos Vater, einem emeritierten Professor der Tiermedizin, liegt, schnauft und prustet als enormes Dingsymbol in der Geschichte herum. Julians Semesterferienjob ist es, der riesigen „Zwergin“ das Leben zwischen Gartenteich und Strohschütte angenehm zu machen. Und während der an einem Wirbelsäulen-Tumor leidende Professor Beham im Rollstuhl vor dem Fernseher sitzend die Olympischen Spiele von Athen verfolgt, schneidet Julian Rohkost als Flusspferdfutter und versucht, die Judith-Misere hinter sich zu lassen: seine erste große Liebe, die er mutwillig zerbrochen hat, ohne zu ahnen, wie furchtbar das Unwiederbringliche einen Menschen verheeren kann . . .

Wie Werther und Holden Caulfield

Julian Birk, der Bauernsohn in der Metropole, der unglücklich Liebende, der empfindliche Eigenbrötler, der „Laufbursche“, der rechthaberische Zivilisationskritiker – er trägt all die anderen Werthers und Holden Caulfields, all die zwischen Selbstüberhebung und Minderwertigkeitsempfindung herumgeschmissenen jungen Männer der Literaturgeschichte mit sich herum. Dieser Last begegnet die Erzählung mit einer gewissen Wurschtigkeit im Ausdruck, dem stilistischen Schwanken zwischen bürokratisch Hingedrechseltem, treffend Lapidarem, Plauderton, Pathos und Einsprengseln von Jargon. Man kann das für Unachtsamkeit des Autors halten, man kann aber auch die Absicht darin erkennen, das Unausgegorene an und in der Erzählerfigur sprachlich spürbar zu machen. Denn unausgegoren ist dieser Zweiundzwanzigjährige bis zum zuweilen schwer Erträglichen.

Arno Geiger gilt spätestens seit seinem Bestsellererfolg „Es geht uns gut“ (2005) als Experte für die Innensicht verschiedener Lebensalter – mit Recht. Im darauf folgenden, dem bisher jüngsten Roman „Alles über Sally“ von 2010 versetzte er sich in eine Frau von fünfzig Jahren, und in diesem „Selbstporträt mit Flusspferd“ sucht er nun, selbst inzwischen im Alter von Mitte vierzig, eine Lebensphase auf, die er sich ebenso erst wieder erzählend erobern muss. Die Jugendzeit, ob schön oder nicht, ist vor allem: fern.