Hassan hat einer Frau das Leben gerettet. Dennoch soll der 26-jährige Asylbewerber abgeschoben werden. Bekommt er doch noch eine Chance?

Freiburg im Breisgau - Es ist ein trüber Novembertag, als Hassan, 26, sein eigenes Leben riskiert, um ein anderes zu retten. Ein Mann hat einer Frau an der Straßenbahn-Haltestelle Lindenwäldle im Freiburger Stadtteil Weingarten ein Springmesser in den Bauch gerammt. Sie sinkt auf den Boden, der Mann will erneut zustechen, die Menschen rennen davon. Nur Hassan stürmt auf den Täter zu, schlägt dem Mann auf den Kehlkopf, tritt ihm mit einem Fuß zwischen die Beine, presst ein Knie in seinen Rücken und fixiert ihn.

 

Er weiß, wie das geht mit dem Fixieren, er hat es selbst schon erlebt. Drei Haftstrafen hat der 1,90 Meter große Mann bereits hinter sich. Seine Delikte: Diebstähle, Schwarzfahren, Verstoß gegen das Aufenthaltsrecht – und im Gefängnis: gefährliche Körperverletzung. Die einzelnen Freiheitsstrafen wurden addiert. 63 Monate hat er zusammengerechnet im Gefängnis verbracht. Zwei Monate U-Haft in Passau, 29 Monate Jugendstrafe und Erwachsenenstrafe in verschiedenen bayerischen Gefängnissen. Laufen-Lebenau, Ebrach, München. Vier Jahre Ruhe. Dann noch mal 32 Monate in Freiburg. Entlassen am 19. August 2014. Drei Monate bevor er der Frau das Leben rettete.

Hassan hat keine Papiere. Er kommt aus Palästina, so sagt er. Sein Herkunftsort ist nicht eindeutig belegt. Und damit beginnt das Problem. Denn Hassan ist in Deutschland nur geduldet. Geduldet und straffällig. Da fordern viele schnell die Abschiebung. Hassan hat einer Frau das Leben gerettet. Es war sehr knapp. Soll man ihn jetzt anders behandeln?

Neujahrsempfang beim Oberbürgermeister

Für kurze Zeit interessieren sich viele für Hassan, jeder will wissen, wie er den Täter überwältigt hat. Ist Hassan ein Held ?

Für die Behörden ist Hassan zunächst einmal ein Mann ohne Aufenthaltserlaubnis. Er soll aus Deutschland verschwinden, so will es das Gesetz. Seit elf Jahren lebt er in diesem Land, es sei seine Heimat geworden, sagt er. Es gibt keinen Passus im Asylrecht, der den Aufenthalt wegen Zivilcourage erlaubt. Gleiches Recht für alle. Oder soll man einen Retterbonus fordern?

Im Winter sieht es kurze Zeit so aus, als könnte sich für Hassan alles zum Guten wenden. Der Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon lädt ihn zum Neujahrsempfang ein und dankt ihm in einer Rede für sein mutiges Einschreiten. Sein Engagement sei Beleg für eine funktionierende Bürgergesellschaft, in der die Menschen nicht wegschauten. Danach lässt sich Salomon lächelnd mit dem Helden fotografieren. Menschen klopfen Hassan auf die Schulter. Die Familie des Opfers schreibt ihm einen Dankesbrief.

Toll gemacht, aber jetzt geh bitte!

Vier Monate später steht Hassan wieder an jener Straßenbahn-Haltestelle in Freiburg-Weingarten. Lange will er nicht bleiben. Er setzt sich auf eine Parkbank in der Nähe. „Ich will keine Belohnung, ich will ein Leben“, sagt er und schiebt mit seinen Schuhen Kieselsteine hin und her.

Er versteht das nicht: Erst sagen viele, wie mutig er gewesen sei, und dann wollen sie, dass er ausreist. Toll gemacht, aber jetzt geh bitte! Kurz nach der Heldentat händigt ihm ein Sachbearbeiter der Ausländerbehörde ein Schreiben aus, in dem er sich bereit erklären soll, zu seiner Ausreise beizutragen. Er zerreißt es spontan, oft handelt er aus dem Impuls heraus. Sein Temperament handelt ihm ständig Ärger ein. Andererseits: wäre das nicht sein Naturell, wäre die Frau vielleicht schon tot.

Vor ein paar Jahren wurde Hassan von einer Richterin gefragt, ob er das mit dem Klauen künftig sein lasse. Er sagte: „Geben Sie mir eine Arbeitserlaubnis, dann hör ich auf zu klauen.“ Solche Antworten machen sich nicht gut vor Gericht. Mangelnde Einsicht. Das steht nachher in den Akten.

Sein Neustart begann mit einem Fehler

Seit seiner Ankunft in Deutschland ist vieles schiefgelaufen. Sein Neustart begann mit einem Fehler, einem Fehler der Behörden: Als er als Teenager nach Freiburg kam, schickten ihn die Polizisten zur Landeserstaufnahmestelle nach Karlsruhe. Eigentlich wäre von Anfang an das Jugendamt Freiburg für ihn zuständig gewesen. Er  galt als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, musste also in jener Stadt bleiben, in der er von der Polizei aufgegriffen worden war. In Freiburg hätte Hassan Anspruch auf einen Vormund gehabt, einen Schulplatz bekommen und einen Sprachkurs absolviert. Er hätte feste Ansprechpartner gehabt. Hätte.

Doch erst mal ist Hassan allein. Er kennt das schon. Sein Vater und seine Mutter seien früh gestorben, erzählt er. Es gebe keine Verwandten, keine Geschwister. Man kann ihm glauben oder nicht. Die Geschichte lässt sich nicht nachprüfen. Mit Lkws, Autos und Fähren sei er nach Europa gelangt – Italien, Frankreich, Deutschland. Irgendwann habe er am Freiburger Hauptbahnhof gestanden. Dort hätten ihm Jugendliche geraten, zur Moschee zu gehen. Es gäbe dort Erwachsene, die Arabisch sprächen und ihm helfen könnten. Ein Paar habe ihn für einige Tage bei sich aufgenommen und ihm zu essen gegeben.

Ein paar Tage später wird er von der Polizei bei einem Ladendiebstahl in einem Kaufhaus erwischt. Das ist belegt, steht in den Akten. Die Beamten bringen ihn bei einer Familie in Schallstadt unter.

Hassan haut ab

Silvia Sachse kann sich gut an den Abend erinnern. Es ist der 24. Juli 2004, als Hassan bei ihnen abgeliefert wird. Um halb zehn Uhr abends klingelt das Bereitschaftstelefon. Die 53-jährige Jugenderzieherin und ihr Mann sind auf einem Geburtstag, der Nachtisch wird gerade serviert. Jetzt ist die Polizei am Apparat.

Eine Stunde später stehen die Beamten mit Hassan auf der Türschwelle. Das Paar nimmt seit Jahren jugendliche Flüchtlinge auf. Das Christopherus-Jugendwerk in Freiburg vermittelt sie ihnen. Für die sogenannte Inobhutnahme bekommen sie Geld. Silvia Sachse zeigt Hassan die Wohnung. Nachdem die Polizisten verschwunden sind, will Hassan noch mal kurz vor die Tür. Silvia Sachse denkt: Lass ihn eine rauchen. Doch Hassan haut ab. Den Rucksack lässt er da. Sachse ruft die Polizei an.

Drei Tage darauf erscheint Hassan bei der Landeserstaufnahmestelle in Karlsruhe. Das belegt die Ausländerakte. Spätestens hier hätte man Hassan zurück nach Freiburg schicken müssen. Doch es kommt anders: Karlsruhe schickt Hassan nach Bayern und behandelt ihn damit wie einen erwachsenen Flüchtling. Ohne Sprachkenntnisse und Vormund landet er vor elf Jahren mitten in einem fränkischen Dorf.

Eine Geschichte der Kettenduldung

Hier, in Zirndorf, entscheidet sich seine Zukunft, eine Anhörung bestimmt über den Ausgang des Asylantrags. Hassan wird abgelehnt. Die Behörden zweifeln an seiner Geschichte. Sie glauben, dass er aus Algerien kommt. Hassan sagt, seine Mutter sei von dort gewesen. Erfindet er es? Die Behörden glauben, dass er den Pass wie viele Jugendliche bewusst nicht nach Deutschland mitgenommen hat, um nicht abgeschoben werden zu können.

Es beginnt eine Geschichte der Kettenduldung. In der Unterkunft im niederbayrischen Freyung teilen sich 30 Menschen eine Dusche. Keiner der Flüchtlinge spricht Arabisch, so erzählt es Hassan. Er ist der einzige Jugendliche dort. Hassan beschließt, nach Freiburg zurückzukehren. Dort hatten ihn die Menschen von Anfang an bei sich aufgenommen, waren freundlich zu ihm. Doch er hat ein Problem: In Freiburg bekommt er kein Geld, das Ausländeramt in Freyung ist für ihn zuständig. Er beginnt zu klauen. Ein Kaufhausdetektiv erwischt ihn, die Polizei nimmt ihn mit aufs Revier, schickt ihn zurück nach Niederbayern. So geht das zwischen Freiburg und Freyung hin und her.

Im Februar 2005 will eine Jugendsachbearbeiterin des Polizeipräsidiums Freiburg Nord endlich klären, wo Hassan denn nun hingehört. In Freyung in Bayern teilt man ihr mit, dass Freiburg nun zuständig sei. Dieser Vermerk ist in Hassans Ausländerakte dokumentiert. Aber in Freiburg will man von einer Zuständigkeit nichts wissen. Hassan soll zurück nach Bayern. Man stellt ihm einen Fahrgutschein aus. Erledigt.

Die Verstöße häufen sich

Für Hassan hat das Folgen. Mit jedem Übertritt über die bayerische Landesgrenze macht er sich strafbar. Die Verstöße häufen sich. Und auch die Diebstähle. Abschieben können ihn die Behörden ohne Pass nicht. Also bleibt er geduldet und wird immer öfter straffällig. Klauen, kiffen, Verstöße gegen die Residenzpflicht – Hassan kommt ins Gefängnis. München, Stadelheimer Straße. Dort macht er den Hauptschulabschluss und beginnt eine Schreinerlehre. Als er aus der Haft entlassen wird, soll er in Bayern bleiben. Er will nach Freiburg. Dort wartet ein Mädchen.

Seine Freundin sprach Hassan an der Haltestelle vor dem Stadttheater in Freiburg an. Machte ihr ein Kompliment wegen ihrer schönen grünen Augen. Suzana Baric lacht, wenn sie daran zurückdenkt. Dieser Kerl. Sie schüttelt den Kopf. Die beiden sitzen im Februar dieses Jahres im Büro von Hassans Anwalt Christian Fischer. Hassan ist ihm während eines Gefängnisaufenthaltes in Freiburg begegnet. Einige von Fischers Mandanten sind Häftlinge. Hassan kann ihm kein Geld zahlen. Fischer, 41, hat durchgeboxt, dass Hassan seinen Wohnsitz verlagern konnte. Der junge Mann darf nun zu seiner Freundin ziehen.

Vier Jahre ist das Paar schon zusammen. Die Beziehung hielt trotz Gefängnis. Jetzt geht es um die gemeinsame Zukunft. Hassan möchte arbeiten und seinen Teil zum Haushalt beitragen. Er darf nicht. Die Behörden werfen ihm vor, seine Abschiebung hinauszuzögern. Er soll bei verschiedenen nordafrikanischen Konsulaten vorsprechen und darum bitten, dass sie ihn aufnehmen. Tut er es nicht, wird das als unkooperatives Verhalten gewertet. Beim algerischen Konsulat ist er mehrere Male, beim tunesischen ein Mal. Beide lehnen ihn ab.

Noch immer keine Perspektive

Dass bei Hassan schon so viel im Vorfeld schieflief, interessiert niemanden. Dabei ist es in seiner Akte dokumentiert. Freiwillig gibt sie die Ausländerbehörde nicht heraus. Fischer bohrt monatelang nach, will die Akte endlich sichten. Die Stadt teilt ihm mit, sie werde intern geprüft. Schließlich darf Fischer doch einen Blick hineinwerfen: Die Orte, an denen Hassan gelebt hat, die Gefängnisaufenthalte, alles ist aufgeführt – nur Freiburg als erste Station, als die Stadt, in der er ankam, kommt nicht vor.

Im März trennt sich Hassans Freundin von ihm. Suzana sagt: „Er hat keine Perspektive. Das belastete unsere Beziehung seit Langem.“ Hassan wohnt nun bei einem Kumpel. Seit April hat er kein Geld mehr vom Sozialamt bekommen. Sein Anwalt sagt, die Behörden hätten wieder einen Fehler gemacht. Er klagt gegen die Stadt. Das Sozialgericht gibt ihm recht, Hassan bekommt sein Geld. Fischer weiß, dass es ohne Geld nur eine Frage der Zeit ist, bis sein Mandant wieder straffällig wird.

Wäre Hassan niemals straffällig geworden, wenn er einen Vormund gehabt, früher eine Schule besucht hätte? Das lässt sich im Nachhinein nicht herausfinden. Fest steht nur: Chancen wurden vertan, Möglichkeiten verbaut. Von Hassan selbst, von den Behörden. Elf Jahre ist es her, dass Hassan in dieses Land kam – und immer noch fehlt ihm eine Perspektive.

Es bleibt das Bild eines schwierigen Helden. Eines Helden mit Angst. Vor zwei Wochen ist Hassans Duldung abgelaufen. Er kann nun jederzeit abgeschoben werden. Theoretisch. Aber das könnte er schon seit elf Jahren. Theoretisch. Sein Anwalt hat jetzt Ersatzpapiere beantragt. Hassan soll als Staatenloser gelten. So könnte das mit dem Vorsprechen bei den Konsulaten aufhören. So besteht die Chance, dass Hassan irgendwann arbeiten darf.

Hassan hat einer Frau das Leben gerettet – hat das keinen Einfluss auf seine Aussichten, in Freiburg zu bleiben? Der Pressesprecher der Stadt sagt auf Anfrage: „Eine Zusage auf dauerhaftes Aufenthaltsrecht hat der Oberbürgermeister nicht gegeben.“

Bis jetzt hat Hassan die Wahl zwischen Abschiebung oder einem Leben in der Halbwelt. Es ist keine Wahl. Vielleicht bekommt er irgendwann eine echte.