Stuttgart muss mehr Flüchtlinge aufnehmen als gedacht. Die Kommunen wollen mehr Geld für die Unterbringung - die Pauschale sei viel zu gering. Die geplanten Unterkünfte werden eventuell weiteren juristischen Widerstand hervorrufen.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Eine Niederlage hatte zwar niemand erwartet bei der Stadt, dennoch ist die Erleichterung groß, dass eine Anwohnerin mit ihrem Eilantrag gegen den Bau eines Flüchtlingsheims in Plieningen vor dem Verwaltungsgericht gescheitert ist. „Das ist eine starke Tendenzaussage“, sagt Stefan Spatz, der stellvertretende Leiter des Sozialamts. Er ist zufrieden.

 

Aus gutem Grund. Es ist damit zu rechnen, dass von den geplanten sechs neuen Asylbewerberunterkünften vor allem die in Feuerbach im Laufe des Genehmigungsverfahrens weiteren, auch juristischen, Widerstand hervorrufen wird. Doch einen Zeitverzug bei der Unterbringung von Flüchtlingen kann sich die Stadt nicht leisten. Deshalb ist es für sie wichtig, dass die im Bau befindliche Einrichtung Im Wolfer in Plieningen, in der 159 Flüchtlinge eine Bleibe finden werden, bald fertig ist.

Plus 61 Prozent bei den Asylanträgen in diesem Jahr

Denn der Druck auf die Stadt wird weiter zunehmen. Ende des Vorjahres waren 1584 Flüchtlinge in Stuttgart untergebracht, im Mai 2014 sind es 1815 gewesen, bis Ende des Jahres werden es voraussichtlich rund 2800 sein. Landesweit lag die Zunahme der Erstanträge auf Asyl im vergangenen Jahr bei plus 75 Prozent, bundesweit stieg die Zahl 2014 um 61 Prozent. Das ist auch der Grund dafür, dass die Stadt in sechs neuen Systembauten weitere 1038 Plätze für Ankommende schaffen wird, zusätzlich zu denen, die in schon bestehenden Gebäuden dazukommen werden.

Was passiert, wenn der Zeitplan aus dem Ruder läuft, zeigt sich im Stuttgarter Süden. In einem Privatgebäude in Heslach, das die Stadt anmietet, sollten von Juli an 184 Menschen unterkommen. Nur ist der Eigentümer mit dem Umbau in Verzug. Die Folge davon ist: Einstweilen müssen 160 Personen im alten, eben erst geräumten Kinderhospital Olgäle im Stuttgarter Westen gleich auf vier Etagen untergebracht werden. Und dies vermutlich nicht nur bis Ende Juli, sondern auch noch in den August hinein, sagt Spatz.

Nichts deutet auf einen Rückgang der Asylzahlen hin

Und es sieht danach aus, dass die bisher geplanten zusätzlichen Kapazitäten im kommenden Jahr nicht ausreichen werden. Das ergibt sich etwa aus der wachsenden Zahl von Bootsflüchtlingen, die von Afrika über das Mittelmeer Europa erreichen. Die aktuelle Entwicklung etwa im Irak, die Lage in Syrien, Pakistan und in Afghanistan, aber auch die Verhältnisse in Nigeria und Gambia deuten nicht auf einen Rückgang der Asylbewerberzahlen hin.

Deshalb wollen die Kommunen vom Land eine Prognose, mit wie vielen Flüchtlingen sie 2015 rechnen müssen, um Vorbereitungen treffen zu können. Diese Forderung hat der baden-württembergische Städtetag in einem Schreiben an das Integrationsministerium erhoben. „Uns läuft die Zeit davon“, sagt Gerhard Mauch, der zuständige Referent beim Städtetag. „Wir brauchen längere Vorlaufzeiten.“ Schon deshalb, weil es vielen Kommunen an Gebäuden und Grundstücken mangele, um Quartiere für Flüchtlinge zu schaffen, und weil Containerdörfer „auf Vorbehalte in der Bevölkerung stoßen“. Beim Integrationsministerium gibt es die Prognose aber nicht. Man verweist auf das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge.

Der Städtetag fordert die Erhöhung der Kostenpauschale

Der Städtetag fordert überdies, dass das Land die Kostenpauschale, die die Kommunen für die Unterbringung der Flüchtlinge erhalten, erhöht. Gerhard Mauch: „Die jetzige Pauschale ist völlig unzureichend. Die Kommunen legen viel eigenes Geld drauf.“ Weil deren Ressourcen endlich seien, sagt der Referent des Städtetags, solle man vor allem jenen Flüchtlingen Hilfe gewähren, „die nach dem Asylrecht verfolgt sind und nicht denen, die ihre wirtschaftliche Situation verbessern wollen“.

So entspricht es der Forderung des Verbandes, dass die große Koalition in Berlin eine Verschärfung des Asylrechts für Menschen aus Ländern des westlichen Balkans vornimmt und diese zu sicheren Herkunftsländern erklärt. Das hätte zur Folge, dass Flüchtlinge aus Serbien, Mazedonien, dem Kosovo sowie aus Bosnien-Herzegowina, die eine geringe Anerkennungsquote haben, künftig schneller abgeschoben werden könnten – mit einer, so die Erwartung, spürbaren Entlastung für die Kommunen.

Die meisten Flüchtlingen stammen vom Balkan

Wie groß diese Gruppe ist, zu der vor allem Roma und Sinti gehören, lässt sich am  Beispiel Stuttgarts zeigen. Von den 1815 Flüchtlingen, die im Mai in insgesamt 62 Einrichtungen der Landeshauptstadt untergebracht waren, kommen 450 aus diesen Ländern, das sind knapp 25 Prozent.

Stefan Spatz warnt vor überzogenen Erwartungen an die Gesetzesinitiative. „Davon sollte man sich nicht zu viel erhoffen“, sagt der stellvertretende Sozialamtsleiter. Einen Effekt für die Kommunen werde dies nur haben, wenn Flüchtlinge aus den genannten Ländern dann auch nicht mehr den Städten und Gemeinden zugewiesen würden und stattdessen in Einrichtungen wie der Landesaufnahmestelle in Karlsruhe verblieben. Diese sind aber bekanntlich jetzt schon völlig überfüllt.

Der evangelische Asylpfarrer Werner Baumgarten betrachtet die aktuelle Debatte mit Sorge. Nicht nur, dass selbst die groß angekündigte Aufnahme syrischer Kontingentflüchtlinge in der Praxis „nur sehr schleppend“ verlaufe. In Stuttgart lebten im Mai nicht mehr als 100 Menschen aus dem Bürgerkriegsland in Asylunterkünften. Nun plane die Bundesregierung noch „einen Angriff auf das Grundrecht auf Asyl“, kritisiert Baumgarten. Angesichts der deutschen Geschichte fordert er einen „sensibleren Umgang“ mit den Armutsflüchtlingen vom Balkan. Der Seelsorger ist der Ansicht, dass die Flüchtlingszahlen trotz des Anstiegs „absolut betrachtet immer noch überschaubar sind – über ein Jahrzehnt sind die Zugangszahlen zurückgegangen“. Trotzdem hätten unter der grün-roten Landesregierung die Abschiebungen, die zunächst erfreulicherweise gesunken seien, inzwischen wieder merklich zugenommen. Statt die Menschen, die in ihren Herkunftsländern unter extremer Armut und Diskriminierung litten, einfach zurück ins Elend abzuschieben, fordert Baumgarten, solle man diese zuvor lieber fördern und vor allem deren Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen.