In Neckarwestheim gehen die Meinungen zum Atomkraftwerk auseinander. Jetzt sind die Gegner der Abschaltung ein Stück näher gekommen.

Neckarwestheim - Weißer Wasserdampf streift über die Kuppe des Reaktorgebäudes und verflüchtigt sich im wolkenbedeckten Himmel. Der kilometerlange Betonzaun mit Stacheldrahtbewehrung, dahinter Betonblockaden, der Abluftkamin, die Kühltürme, Hunderte Autos auf den Mitarbeiterparkplätzen: mehr gibt es nicht zu filmen für die zwei Fernsehteams, die an diesem Vormittag ihre Kameras auf die Anlage richten, keine besonderen Vorkommnisse im Atomkraftwerk Neckarwestheim.

 

Es war am Lukastag des Jahres 1356, als ein Erdbeben Basel in Trümmer legte. Läge Basel 50 Kilometer dichter an Neckarwestheim, wäre am Rande des schwäbischen Örtchens niemals ein Kernkraftwerk gebaut worden. Die sicherheitstechnische Regel KTA 2201.1 besagt, dass der Umkreis von 200 Kilometern um ein Erdbebengebiet atommeilerfreie Zone bleiben muss. "Da stellt sich für mich die Frage, was solche Rechenspielchen sollen", sagt Wolfram Scheffbuch: "Wurde der Abstand deshalb so gewählt, um Neckarwestheim aufwendige Konstruktionen zu ersparen?"

"Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen"

Als Vorsitzender einer Bürgerinitiative kämpft Scheffbuch seit gut anderthalb Jahrzehnten gegen das Kernkraftwerk in seiner Nachbarschaft. Damals war der Sozialarbeiter von Stuttgart nach Kirchheim am Neckar gezogen. Im Schatten der Kühltürme begann er, Horrorszenarien zu entwerfen, die in Neckarwestheim zum GAU führen könnten. Scheffbuch ist beispielsweise davon überzeugt, dass ein Anschlag auf Stromleitungen in Kombination mit einem gleichzeitigen Defekt der Notstromaggregate die Kernschmelze auslösen würde. Doppeltes technisches Versagen sei - mathematisch betrachtet - zwar unwahrscheinlich, "aber Japan zeigt wieder einmal, dass uns alle Sicherheitsmaßnahmen nicht vor einer Katastrophe schützen können." Wolfram Scheffbuch glaubt fest an Murphys Gesetz: Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen - irgendwie, irgendwo, irgendwann.

Uwe Seibold sitzt in seinem Amtszimmer und erklärt, dass Kirchheim eigentlich kein Anti-Atom-Dorf sei: "Die Leute interessieren sich mehr für Ortskernsanierung als für das Kernkraftwerk." Seibold - Jahrgang 1967, parteilos - ist Bürgermeister und Atomkraftgegner. Er sagt, dass in der Gegend viele Leute von dem AKW leben würden, aber das dürfe keine Rolle spielen: "Seit Tschernobyl steht fest, dass es Situationen gibt, die nicht zu beherrschen sind."

Seite 2: Der Bauernhof hat das Atomkraftwerk zum Nachbarn - und merkt nichts davon

Bei dem Gemmrigheimer Bauern Beckbissinger geht alles seinen Gang. Seine Äcker beginnen gegenüber des Kraftwerks. Kürzlich hat er Frühkartoffeln der Sorte Leyla - "ertragreich und schön gelb" - gesteckt. Die AKW-Beschäftigten nehmen nach Feierabend oft noch was bei ihm mit.

Seit Block I ans Netz ging, lebt seine Familie mit dem Atomkraftwerk als Nachbar. "Was bleibt uns anderes übrig", sagt der 60-Jährige. Er war vor den Brennstäben da. Sein Vater kaufte den Aussiedlerhof 1961, sein Sohn hat vor einem Jahr ein schmuckes Haus neben den Eltern gebaut und führt den Betrieb weiter. Der zweijährige Enkel schaukelt mit Blick zum AKW, spielt 300 Meter von Block I entfernt im Sandkasten. Sollte auf der anderen Seite der Straße ein Unglück passieren, die Beckbissingers wären die Ersten, die ihr Zuhause und ihre Lebensgrundlage verlieren würden. Dies führen ihnen die Fernsehberichte der Atomkatastrophe in Japan täglich vor Augen.

Und doch herrscht auf dem Hof Gelassenheit. Man lebe schon so lange mit dem AKW, es habe nie Probleme gegeben. Paul Beckbissinger durfte sich vor ein paar Jahren die Anlage von innen ansehen, beeindruckend. Im Prinzip vertraue er auf die Technik und die Experten. "Was bleibt uns anderes übrig", sagt sein Frau Lise, 59. Im wenige Kilometer entfernten Kohlekraftwerk Walheim, wo die Beckbissingers Trollingertrauben anbauen, konnten die Leute früher kaum Wäsche draußen aufhängen, weil sie schwarz wurde. Vom AKW merkt man nichts.

Der Standort sei ungeeignet, sagt der Stuttgarter Geologe Behmel

Am Vortag besuchte Beckbissinger eine Wahlkampfveranstaltung in Löchgau. Der frühere Ministerpräsident Späth war auch da. "Der sagte, dass wir nicht auf Atomkraft verzichten können. Ob's stimmt, weiß man nicht", sagt Paul Beckbissinger. Er sei nicht absolut für Atomkraft, das Zwischenlager habe er nie gewollt. Aber die Wirtschaft brauche Strom. "Und was nutzen uns ausgeschaltete AKWs in Deutschland, wenn in Frankreich immer mehr gebaut werden", sagt der Landwirt. Er habe Verständnis für die Demonstranten und Menschenketten, die er hautnah miterlebt. Dass man aber beim Castortransport 1998 auf seinen Äcker herumtrampelte, das hat ihn geärgert. "Manche könnten sich ruhig besser benehmen", sagt Beckbissinger und dass er keine Angst vor der Atomkraft habe.

Der Stuttgarter Geologe Hermann Behmel hat Angst. Zwischen 1974 und 1976 untersuchte er im Auftrag der Landesregierung den Untergrund für das geplante Kernkraftwerk in einem ehemaligen Steinbruch bei Neckarwestheim. Sein Fazit: der Standort sei ungeeignet, weil eine Gipsschicht durch Grundwasser ausgelaugt werden könne, wodurch Hohlräume entstünden, die spontan zusammenstürzen könnten. Gebaut wurde trotzdem.

Die Bürgerinitiative kämpft für die Abschaltung in Neckarwestheim

1988 warnte Behmel erneut vor der Gefahr. Durch eine plötzliche Absackung eines Gebäudeteils könnten die Kühlleitungen zwischen Reaktor und Maschinenhaus zerstört werden. In der Folge käme es zur Kernschmelze. Reine Panikmache, meinte die Landesregierung. "Ich bin furchtbar enttäuscht, dass wissenschaftliche Expertisen missachtet werden", sagt Behmel.

In Kirchheim haben Umweltaktivisten 1987 ein Mahnmal aufgestellt. Darin sind die Namen jener verewigt, "die trotz Tschernobyl" in Neckarwestheim einen zweiten Kraftwerksblock errichten ließen: der damalige Landesvater Lothar Späth sowie vier seiner Minister (alle CDU).

Gestern hat Bundeskanzlerin Merkel bekanntgegeben, dass die längeren Laufzeiten für die deutschen Kernkraftwerke nach Japan für drei Monate ausgesetzt werden sollen. Die Abschaltung von Block I rückt somit näher. Als "überraschend und folgerichtig" bezeichnet Wolfram Scheffbuch die Entscheidung: "Wir haben damit die Hälfte unseres Weges geschafft." Am Ziel sei seine Bürgerinitiative erst, wenn auf dem porösen Boden Neckarwestheims gar keine Atomkerne mehr gespalten werden.