Am Freitag ist der sehbehinderte Rentner Ivan Ravlik in einer Stadtbahn in Stuttgart angegriffen worden. Geblieben sind ihm eine Schwellung am Kopf und eine unbestimmte Angst. Behindertenverbände vermissen die Achtsamkeit in der Gesellschaft.

Stuttgart - Ivan Ravlic kann es noch immer nicht fassen. Der 67 Jahre alte sehbehinderte Rentner ist am Freitagnachmittag in einer Stadtbahn in Bad Cannstatt attackiert worden. Ravlic hatte einen Mann darum gebeten, den Behindertenplatz in einer Stadtbahn der Linie U 2 frei zu machen. Der Fahrgast sprang auf, zerbrach Ravlics Blindenstock und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Geblieben ist dem 67-Jährigen eine Schwellung am Kopf, ein kaputtes Gebiss, eine zerbrochene Brille und eine unbestimmte Angst. „Seit 30 Jahren gehe ich im Park spazieren, jetzt traue ich mich nicht mehr“, erzählt der gebürtige Kroate, der seit 46 Jahren in Deutschland lebt.

 

Ivan Ravlic braucht Begleitung

Nach einem Augeninfarkt hat Ravlic vor anderthalb Jahren seine Sehfähigkeit fast komplett eingebüßt. Aus dem Haus geht er seitdem nur in Begleitung, so auch am Freitagnachmittag, als er mit seiner Ehefrau gegen 16.30 Uhr am Wilhelmsplatz in eine Stadtbahn einstieg. Die Fahrt endete für den gelernten Maschinenschlosser in der Bewusstlosigkeit. „Ich war für einige Zeit weggetreten“, erzählt Ivan Ravlic in gebrochenem Deutsch und noch immer aufgewühlt. 24 Stunden verbrachte er daraufhin im Karl-Olga-Krankenhaus. Ursula Marx, die Behindertenbeauftragte der Stadt, spricht von einem „schockierenden Vorfall“: „Das ist eine so vorsätzliche Diskriminierung eines behinderten Menschen, dass es kaum zu fassen ist.“ Marx wünscht sich in einem solchen Fall mehr Zivilcourage von den anderen Fahrgästen, die dem Rentner offenbar nicht zu Hilfe gekommen sind.

Von Angreifer noch keine Spur

Von dem blau gekleideten, etwa 1,85 Meter großen Angreifer fehlt laut Polizei noch jede Spur. „Wir haben bei der SSB die Videoaufzeichnungen aus der Stadtbahn angefordert, um die Körperverletzung aufzuklären“, sagte ein Polizeisprecher am Montag. Diese aber seien noch nicht ausgewertet. „Wir haben bisher nur sichergestellt, dass die Aufnahmen nicht wie üblich nach 48 Stunden überspielt werden“, so der Sprecher. Bei der Stuttgarter Straßenbahnen AG will Sprecherin Susanne Schupp mit Verweis auf den Datenschutz zu dem konkreten Fall nichts sagen. Nur so viel: „Wir haben in jeder Bahn standardmäßig vier Kameras installiert.“ Wenn eine Anfrage der Polizei vorliege, würden die Aufnahmen von einem SSB-Mitarbeiter oder von der Polizei selbst ausgewertet.

Schupp weist außerdem darauf hin, dass die SSB zwar in jedem Wagen Behindertenplätze ausgewiesen habe, aber der Verkehrsbetrieb nicht dafür sorgen könne, dass diese für die Behinderten auch frei gemacht werden. „Wir müssen auf das freundliche Miteinander der Fahrgäste setzen“, sagt Schupp. Den Behinderten aber müsse klar sein, dass „kein Rechtsanspruch auf einen dieser Plätze bestehe“. Die Erfahrung aber zeige, dass die Menschen Platz machen würden, wenn ein Behinderter einsteige. „Das heißt aber nicht, dass es nie zu Konflikten kommt“, so Schupp.

„Achtsamkeit der Menschen lässt nach“

Jonas Buchhardt vom Zentrum für selbstbestimmtes Leben, einem Verein, der die Interessen behinderter Menschen vertritt, kennt diese Konflikte aus eigener Erfahrung. Auch Buchhardt ist schwer sehbehindert, trägt aber weder Stock noch Armbinde. „Oft ist nicht klar, wer das Vorrecht hat, das führt zu Konflikten.“ Für sehbehinderte Menschen sei es besonders schwierig, einen dieser Plätze einzufordern. „Ich sehe die Mimik der anderen Fahrgäste nicht, deshalb kann ich die Reaktion der anderen auch nicht einschätzen.“ Viele Sehbehinderte würden deshalb lieber auf einen Platz verzichten als eine Auseinandersetzung zu riskieren. Der 32-Jährige selbst macht immer Platz, wenn ältere Menschen zusteigen. „Ich bin zwar sehbehindert, aber ich kann stehen.“ Beim Landesverband für Menschen mit Körper-und Mehrfachbehinderung stellt die Geschäftsführerin Jutta Pagel-Steidl fest, dass die Achtsamkeit nachgelassen habe. „Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass man für einen behinderten Menschen aufsteht.“

Der Rentner Ivan Ravlic hofft auf Achtsamkeit an anderer Stelle: „Hoffentlich wird der Täter mit Hilfe von Zeugenaussagen noch gefasst.“