Andreas Bückle war deutscher Frontsoldat im Ersten Weltkrieg, wurde dabei traumatisiert und später als Geisteskranker von den Nazis vergast. Sein Großneffe hat das Schicksal des jungen Mannes erforscht – und versucht, die Wahrheit in den Archiven festzuschreiben. Es war ein langer Kampf.

Münsingen - Eigentlich ist hier von zwei Personen zu berichten, denn ohne die eine wüssten wir nichts von der anderen. Ein in Hamburg lebender Lehrer im Ruhestand hat uns Unterlagen zukommen lassen, die man als gebürtiger Münsinger besonders interessiert zur Hand nimmt. Denn in den Papieren geht es um das Schicksal eines jungen Lebens, das in Trailfingen, damals Oberamt Urach, 1889 seinen Ausgang nimmt. Der Jugendliche erhält in Münsingen und in der Pädagogischen Anstalt in Esslingen eine Ausbildung zum Grundschullehrer. Nach wenigen Monaten Schuldienst muss er 1914 an die Front, und gleich nach seiner ersten Schlacht bei Nancy gerät er in französische Kriegsgefangenschaft. Durch die Erlebnisse traumatisiert, erkrankt er psychisch so schwer, dass die Franzosen ihn schließlich über die Schweiz nach Deutschland entlassen.

 

Eine Postkarte weckt seine Neugier

Danach folgt eine Odyssee durch Lazarette und Heilanstalten, die in Zwiefalten endet. Von dort wird er 1940 nach Schloss Grafeneck transportiert und als „lebensunwertes Leben“ vergast. Der Mann, dessen Schicksal hier geschildert wird, hieß Andreas Bückle, und er bliebe vergessen, hätte sein Großneffe Ludwig Tampe in jahrelangem Bemühen diesen Lebensweg nicht erforscht und aufgeschrieben.

Der Zufall spielte dabei eine große Rolle. Als Tampe die hinterlassenen Dokumente seiner Großeltern sichtete, fiel ihm ein Umschlag in die Hand. Er enthielt eine Postkarte Andreas Bückles, mit der er im Februar 1918 seine Rückkehr in die Heimat ankündigte, ferner einen in Sütterlin geschriebenen Zettel, auf dem die Großmutter notiert hatte, Bückle sei in Grafeneck umgebracht worden. Tampe erfuhr hier erstmals von der Existenz des Großonkels, über den in der Verwandtschaft geschwiegen wurde, wohl auch deshalb, weil man in den Nazijahren über die in Grafeneck Ermordeten nicht reden durfte.

Das formale Unrecht bestand noch immer

Neugierig geworden, startete Tampe einen Aufklärungsfeldzug sondergleichen, der ihn in die Geschichte zurückführte, ihn aber auch zwang, sich mit Behörden, kirchlichen und staatlichen, auseinanderzusetzen – bis hin zum Petitionsausschuss des baden-württembergischen Landtags. Als Tampe das kurze und leidvolle Leben seines Großonkels einigermaßen rekonstruiert hatte, ging es ihm vor allem darum, das formale Unrecht zu beseitigen, das man seinem Verwandten 1940 angetan hatte. Die Eintragungen über Sterbeort und Todesursache Bückles in die Kirchenbücher und Standesamtsregister waren verharmlosend falsch. Tampe wollte die von Staats wegen betriebene Urkundenfälschung nicht stehen lassen und begehrte Korrektur. Das war nicht so einfach wie gedacht. Sein Kampf um Gerechtigkeit und die Wiederherstellung der Würde des Ermordeten umfasst mehrere Dokumentenbände. Begonnen hatte er im Oktober 2008, und er reichte fast bis in die Gegenwart. Mit dem Ausgang ist er nicht zufrieden, zumindest was die staatliche Seite betrifft.

Behandlung mit Elektroschocks

Ein Leben aus Archivakten zu rekonstruieren ist alles andere als einfach. Jedenfalls erfuhr Tampe, dass sein Großonkel Anfang Februar 1918 in Konstanz an deutsche Behörden übergeben wurde, im Austausch gegen französische Gefangene. Betreut vom Roten Kreuz wurde er in das Stuttgarter Reservelazarett I eingeliefert, dem Bürgerhospital. In Frankreich hatte man den Traumatisierten mit Elektroschocks und anderen rigiden Methoden behandelt, die die Krankheit noch verstärkten, ein Umstand, der die Franzosen bewog, ihn auszutauschen. Immerhin, als Bückle in Deutschland ankam, war er noch kommunikationsfähig. Doch die heute rückständig anmutenden Behandlungen in deutschen Heilanstalten waren nicht viel besser.

Am Ende verfiel Bückle in Starre und Schweigen. Er ist nur ein Beispiel für die vielen Kriegstraumatisierten, die nicht mehr in ein normales Leben zurückfanden. Gestützt auf Unterlagen schildert Tampe seinen Verwandten als einen sensiblen jungen Mann, naturbegeistert und fortschrittlich denkend. Die aufgefundenen Lehrproben weisen aus, dass er auch in der Pädagogik neue Wege zu beschreiten versuchte. Aus einfachen Verhältnissen stammend, hatte der Lehrerberuf für ihn auch einen sozialen Aufstieg bedeutet. All das hatte der Krieg zunichtegemacht.

Die nach mühsamer Suche entdeckte Patientenakte vermerkt, dass man Bückle von Stuttgart in das Lazarett Weissenau verlegte. Es folgte die private Heilanstalt in Pfullingen, von der Tampe sagt, sie sei wohl die menschlichste gewesen. Nach deren Schließung kommt Bückle 1922 nach Zwiefalten. Dort bleibt er, der an dem leidet, was man heute Posttraumatische Belastungsstörung nennen würde, weggesperrt bis zu seinem Abtransport nach Grafeneck.

„Ich bin der Letzte, der dieses Schicksal aufklären kann“

Hier berühren sich die Lebenslinien, denn Tampe ist in Zwiefalten aufgewachsen. Sein Vater, ein Bauingenieur, war von 1946 bis in die siebziger Jahre für die Sanierung des Klosterkomplexes zuständig. Damals hatte Tampe keine Ahnung, dass ein Verwandter zu den Insassen der Heilanstalt gezählt hatte und von dort nach Grafeneck verbracht wurde. Tampe selbst ergriff ebenfalls den Lehrerberuf. Nach Tätigkeiten im Ausland trat er in Hamburg eine Rektorenstelle an. Zu den noch lebenden Verwandten auf der Alb hält er bis heute engen Kontakt. Auf die Frage, was ihn bewog, sich derart zu engagieren, antwortet er: „Ich bin der Letzte der alten Verwandtschaft, der die Verhältnisse noch kennt und das Schicksal Bückles aufklären kann.“

Idealer Todeskandidat für die Nazis

Aber wirklich aufgeschreckt und dann angetrieben hat ihn das Stichwort „Grafeneck“ auf dem Notizzettel seiner Großmutter. Tampes Mutter konnte sich noch an die grauen Busse mit den zugeschmierten Fensterscheiben erinnern, die durch Münsingen und andere Alborte fuhren und in denen die Patienten nach Grafeneck zur sofortigen Vernichtung transportiert wurden. Grafeneck war der Beginn der sogenannten T4-Aktion zur Beseitigung „lebensunwerten Lebens“. Heute wissen wir, dass dies nur die Vorstufe war für die massenhaften Vernichtungsaktionen im Osten.

Andreas Bückle war in den Augen der NS-Ärzte ein idealer Todeskandidat: geisteskrank, nicht ansprechbar und nicht arbeitsfähig. Wie die anderen Angehörigen der anderen zehntausend Grafeneck-Opfer auch erhielt die Familie den Bescheid, Bückle sei an Grippe und Hirnhautentzündung erkrankt und am 27. August 1940 verstorben, und zwar im österreichischen Hartheim bei Linz. So wurde es auch in die kirchlichen und kommunalen Bücher eingetragen. Doch das war eine glatte Lüge. Tatsächlich wurde Bückle schon am 5. August in Grafeneck in die Gaskammer geschickt. Das Datum deckt sich mit den Angaben aus der Zwiefalter Patientenliste. Dort lautet der Endvermerk: „Verlegt am 5.8.1940.“ In Grafeneck aber wurden die Todeskandidaten nicht untergebracht, sondern noch am gleichen Tag ermordet.

Die Nazis kassierten noch Geld von den Kostenträgern

Wäre es anders gewesen, dann hätte man Bückle und andere erst einmal drei Wochen herumgekarrt und dann in Hartheim abgeliefert. In Wahrheit hat die Zeitdifferenz einen anderen Grund: die Nazis konnten von den Kostenträgern der Heilanstalten noch Geld kassieren und damit die Vernichtungsaktion finanzieren.

Nach allem, was Tampe nun in Erfahrung gebracht hatte, begehrte er eine Korrektur zunächst des falschen Eintrags im Trailfinger Sterbebuch. Er sagte: „Offenbar hat sich in den zurückliegenden Jahren niemand die Mühe gemacht, Sterbebucheintragungen zu überprüfen.“ Es musste doch einfach sein, eine offenkundige Urkundenfälschung zu beseitigen. Das Pfarramt in Münsingen lehnte Tampes Antrag zunächst ab, die fraglichen Kirchenbücher würden gerade an das landeskirchliche Archiv in Stuttgart abgegeben. Dort könne man vielleicht weiterhelfen.

Doch das Archiv der landeskirchlichen Zentralbibliothek teilte mit, eine kirchliche Korrektur könne erst in Frage kommen, wenn dem eine öffentlich-rechtliche vorausgehe. Tampes Bemühungen beim Standesamt Münsingen, das auch für das eingemeindete Trailfingen zuständig ist, landeten bei der vorgesetzten Behörde in Reutlingen. Von dort erfuhr er: „Wir dürfen in der Angelegenheit nicht tätig werden.“ Die Fortführungsfrist für Sterberegister sei auf 30 Jahre beschränkt. Danach gingen die Unterlagen ins Archiv. Und jede Änderung am „Archivgut“ sei unzulässig. Wenn also die zivilen Behörden bei ihrer Auffassung blieben, konnte es keine Korrektur der kirchlichen Eintragungen geben.

Doch die Kirche reagierte auf den Vorgang sehr sensibel, und so konnte das Dekanat Münsingen Tampe zusichern, eine Korrektur sei möglich, wenn die Rechtsabteilung des Oberkirchenrates ihre Prüfung abgeschlossen habe. Deren positiver Beschluss ging an das Pfarramt Münsingen, das folgenden Eintrag vornahm: „Laut Namensbuch der Gedenkstätte Grafeneck und den Ermittlungsakten zu den Grafeneck-Prozessen wurde Andreas Bückle aus der Heilanstalt Zwiefalten am 5. 8. 1940 nach Grafeneck deportiert und dort noch am gleichen Tag ermordet.“ So wurde zum ersten Mal in einem Kirchenbuch der Landeskirche ein offensichtliches Unrecht benannt und auch dokumentiert.

Die Verwaltung blieb stur

Damit aber war Ludwig Tampe noch nicht am Ziel. Es fehlte die Änderung des standesamtlichen Eintrags. Doch nicht einmal eine Gegendarstellung, die den Archivlisten angehängt werden könnte, sei in seinem Fall möglich. Das stehe nur Ehepaaren, Kindern und Eltern der Verstorbenen zu. Als Großneffe falle Tampe nicht unter diesen Personenkreis. Da die Verwaltung stur blieb, wandte sich Tampe an die Fraktionsvorsitzenden des Landtags und schließlich an dessen Präsidenten. Aber alle seine Vorstöße landeten beim Petitionsausschuss. Der aber lehnte ab mit der Begründung, die Antragsfrist sei im Jahr 1970 schon abgelaufen, und überhaupt fehlten überzeugende Beweise.

Tampe suchte verzweifelt nach Belegen, die über die Notiz seiner Großmutter hinausgingen, wurde aber nicht fündig. Die Nazis hatten viele Akten vernichtet, die mit Grafeneck zu tun hatten. Als er gleichwohl Widerspruch einlegte und auf die unterschiedlichen Todesdaten Bückles verwies, wurde er beschieden: „Der Petition kann nicht abgeholfen werden.“ Weitere Schreiben Tampes werde man von nun an nur noch zu den Akten nehmen.

Genervt bot der Ausschussvorsitzende eine Minimallösung an: Man könne den Archivdokumenten eine „Erschließungsinformation“ anfügen, zu erstellen durch das Münsinger Stadtarchiv. So heißt es jetzt im Geburtshauptregister der Gemeinde Trailfingen zum Tod Andreas Bückles: „Gestorben am 27.8.1940 in Hartheim, Oberdonau. Dem ist die wahrscheinlich richtige Angabe  gegenüberzustellen: Gestorben am 5.8.1940 in Grafeneck. Todesursache: Vergasung durch Kohlenmonoxyd.“

So richtig zufrieden ist Ludwig Tampe mit dieser Formulierung nicht. Aber es ist ihm gelungen, ein Schicksal herauszustellen, das beweist, dass die Nazis nicht einmal davor zurückschreckten, ehemalige Frontsoldaten, die am Krieg zerbrachen, in die Gaskammer zu schicken.