Schicksale wie die Geschichte eines Soldaten, der wahnsinnig wird, im ersten Weltkrieg von Ärzten mit Elektroschocks behandelt und von den Nazis später zwangssterilisiert wird, sind hoch dramatisch. Braucht es solche Schockerlebnisse, damit die Distanz von 100 Jahren verschwindet?
Brüning: Solche Lebensläufe laden ein zur Empathie. Wir haben auch die sieben Kinder, die in Freiburg beim Spielen durch einen Bombenangriff getötet wurden, aufgenommen. Dort handelt es sich um Kinder, die vor 100 Jahren von Bomben zerfetzt wurden. Wenn Sie jetzt den Fernseher anmachen, können Sie sehen, was in dieser Art in Syrien passiert. Oder wir erzählen von einer Frau, die in Armut abgleitet, in Prostitution versinkt und nachher zwangsdeportiert wird. Sie werden auch einem Anthropologen begegnen, der im Dritten Reich nationalsozialistische Rassentheorien vertritt und nach 1945 immer noch ein angesehener Wissenschaftler ist. Es geht um Empathie, aber auch um Erschrecken und Zorn. Ich denke, es werden ganz verschiedene Emotionen angesprochen. Jedenfalls haben wir keine Wohlfühlausstellung gemacht. Schließlich geht es um den Krieg.
Es geht auch um den Oberrhein, damals der einzige Frontabschnitt auf deutschem Territorium.
Brüning: Aus deutscher Sicht ist das, abgesehen von Ostpreußen eine ganz besondere Situation. Sie müssen sich vorstellen, die Frontlinie verlief durch den Sundgau und den Vogesenkamm hoch. In Freiburg hat man den Kanonendonner gehört. Die Leute haben vom Schlossberg aus mit dem Feldstecher rüber geguckt. Wir haben auch konkrete Berichte aus dem südbadischen und dem oberelsässischen Bereich, wo die Leute berichten, wie nah die Front kam. Von Charlotte Herder erfahren wir, wie sie tagelang Kanonendonner gehört hat und dann ihr Erschrecken, als es plötzlich still ist. In ihrem Tagebuch beschreibt sie das. Alle wussten, jetzt hat der Nahkampf begonnen. Die Männer gehen mit Bajonetten aufeinander los.
Ihre Konzeption hat eine pädagogische Dimension. Ist sie auch politisch?
Brasseur-Wild: Im heutigen europäischen Kontext bekommt sie, auch wenn das nicht unser Grundanliegen war, eine politische Dimension. Wir haben gezeigt, dass man bei einem komplexen und sensiblen historischen Thema über die Grenze hinweg zusammenarbeiten kann, ohne dass es Spannungen gegeben hätte.
Brüning: Ich halte die Ausstellung für hochpolitisch, weil es uns gelingt, eine gemeinsame Erinnerung zu entwickeln. Es gibt eine Erinnerung jenseits der nationalen Scheuklappen – selbst bei diesem Krieg, und das ohne Zwangsharmonisierung und ohne alte Rechnungen wieder aufzumachen.

Laëtitia Brasseur-Wild, 30, wurde in Lens (Nordfrankreich) geboren und arbeitet seit 2011 an den Archives Départementales in Colmar. Rainer Brüning, 51, Oberarchivrat am Generallandesarchiv Karlsruhe, stammt ursprünglich aus Hamburg.

 

Die ersten Stationen der Ausstellung sind Colmar (vom 24. März an) und Karlsruhe (vom 29. März an). In Karlsruhe wird Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Schau eröffnen. Die beiden Sprachfassungen sind an jedem Ausstellungsort parallel zu sehen.

Öffnungszeiten:
Karlsruhe – Generallandesarchiv in der Zeit vom 29. März bis zum 10. August 2014 jeweils Montag bis Donnerstag von 8.30 bis 17.30 Uhr; Freitag 8.30 bis 19 Uhr; Samstag, Sonntag und an Feiertagen 11 bis 17.30 Uhr. Über Ostern ist geschlossen, genau vom 18. April bis zum 21. April. Colmar – Conseil Général du Haut-Rhin in der Zeit vom 24. März bis zum 6. Mai jeweils Montag bis Donnerstag 8 bis 12 und 14 bis 18 Uhr; Freitag 8 bis 12 und 14 bis 20 Uhr. Am 2. Mai ist dort zu.

Infos
Weitere Informationen auf www.landesarchiv-bw.de, noch im Aufbau: www.menschen-im-krieg-1914-1918.de und www.vivre-en-temps-de-guerre-1914-1918.fr