Die literarische Welt hat in diesen Tagen mit Spannung nach Klagenfurt geblickt. Dort fand der Ingeborg-Bachmann-Preis statt. Bei dem alljährlichen Wettlesen drohte nicht nur den teilnehmenden Kandidaten das Aus, sondern gleich der ganzen Veranstaltung.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Klagenfurt - Der Mann steigert sich da in etwas hinein. Er bebt, nein, er rast: „Ich brauche das Buch“, brüllt Joachim Meyerhoff in den Saal, „ich brauche das Buch“, und wenig nur scheint ihn davon zu trennen, sich wild gestikulierend auf den Boden zu werfen, um seiner innigen Beziehung zu dem gefährdeten Gut Ausdruck zu verleihen. Toben, das kann er, der Burgschauspieler Meyerhoff, der sich mit einem Text, eher Lausbubenstück, über einen Buchdiebstahl um den diesjährigen Bachmann-Preis beworben hat. Darstellerisch zählt sein bibliophiler Anfall zweifellos zu jenen Augenblicken, an die man sich erinnern wird, wenn es um die Frage geht: Was ist das alljährliche Lesespektakel in Klagenfurt wert? 350 000 Euro wollte der österreichische Rundfunk mit dem Ausstieg aus dem Nischenprogramm einsparen.

 

Nun handelt es sich bei dieser Nische allerdings um eine, in die ein Mal im Jahr die gesamte Kapitale Kärntens hineinpasst. Denn aus der Stadt ist der Wettbewerb, der ihrer berühmtesten Tochter Ingeborg Bachmann gewidmet ist, so wenig wegzudenken wie jenes leicht melancholisch getönte Hadern mit sich selbst, merkwürdigen Politikern und der Geschichte überhaupt – ein Zug, der vermutlich übermächtig werden würde, hätte man die sommers einfallende Literaturbetriebsamkeit erst einmal vertrieben.

Die Nische quillt über

„Klagenfurt ist die Literaturhauptstadt Europas“, sagt der Vizebürgermeister bei der Eröffnung. In dem überfüllten ORF-Theater klingt das nicht wie eine Übertreibung, sondern eher nach gefühlter Präsenz der gesamten verschwitzten literarischen Welt. Der Schriftsteller Michael Köhlmaier hätte in seiner Bachmann-Rede zu dem Literaten-Casting durchaus kritische Anmerkungen gehabt, begnügt sich angesichts der Existenzbedrohung aber mit einem von Anfang bis Ende durchgehaltenen Konjunktiv.

Die Nische quillt über. Man will noch einmal wissen, was es mit diesem sonderbaren Ereignis auf sich hat, das so vieles gleichzeitig ist: Richtstätte, Freakshow, Märchenstunde, Autorenbörse, Bacchanal, in dessen nächtigen Lustbarkeiten manches schwindelerregende Sprachvermögen an die Grenzen seiner Artikulationsfähigkeit gelangt und an dessen Ende ein neuer Bachmann-Preisträger steht. Was diese Auszeichnung bedeutet, kann man auf verschiedene Weise erklären. Zum Beispiel mit einer Szene gegen drei Uhr morgens auf dem Eröffnungsfest: Ein torkelnder Zweimetermann macht Ärger, ein freundlicher, deutlich kleinerer holländischer Literaturagent versucht dies zu verhindern. Der andere baut sich vor ihm auf, kommt mit seinem Gesicht ganz nahe, blinzelt und sagt langsam: „Ich bin Bachmann-Preisträger“. So viel zur Sozialprognose derer, die es einmal geschafft haben.

Gegen zerrüttete Beziehungen hilft nur Literatur

Bis man so weit ist, dauert es allerdings eine Weile, vierzehnmal eine halbe Stunde Vorlesen, daran anschließende Kritikerdiskussionen, Empfänge, Agenten- und Lektoren-Posing, das ganze klagenfurtspezifische Vergnügungs- und Ermüdungsprogramm, texten, baden, untergehen. In der Regel haben die um den Preis wetteifernden Kandidaten mit Preisboxern wenig gemein. Sie haben Philosophie oder Literaturwissenschaft studiert, Musik oder Schauspiel, wurden häufig an Literaturinstituten ausgebildet. Eher ungewöhnlich ist ein Erfahrungsprofil wie das des Wunschdeutsch-Brasilianers Zé do Rock, der über Fertigkeiten in Akupressur, Traubenpflücken und Fließbandarbeiten verfügt, viel herumgekommen ist und noch mehr Sprachen spricht. Am besten alle auf einmal, was eben besagtes Wunschdeutsch ergibt, ein weltgetränktes Kauderwelsch, das wunderbar klingt, sich noch wunderbarer liest, und dessen wilde Anarchie lustig hineinkracht in die bisweilen keusche Literaturkursdisziplin der Konkurrenz.

Zé do Rock war einer der erfreulichen Farbpunkte dieses ungewissheitsverhangenen 37. Jahrgangs und hat mit seinem grellgelb-orange Outfit lustig in die Theoretisierungsdunstglocke hineingestrahlt, in der die wuchernden Phrasen und staunenswerten Satzgirlanden der Jury bestens gedeihen. Während sich der in Stuttgart und München lebende Weltenbummler die Zeit bis zu seinem Auftritt am Freitagmorgen mit Wortspielen, nordkoreanischen Reiseschnurren und Bier vertreibt, genießt es die Pressechefin des Suhrkamp Verlags, sich ausnahmsweise einige Tage einmal wieder ihrem literarischen Kerngeschäft widmen zu können. Ihr Verlag ist neben dem Wettbewerb selbst der zweite in seiner Existenz bedrohte Patient – manchen hier gilt er als der schwerere Fall. Wer sie auf den juristischen Überlebenskampf anspricht, muss damit rechnen, mit Strafgebühren belegt zu werden. Das Aussprechen des Namens Hans Barlach kostet fünf Euro – was den feindlichen Teilhaber nicht hindert, just in diesen Tagen eine neue Rechtsoffensive zu starten. „Der klagt sich noch einen Wolf“, knurrt die Pressechefin ungehalten – und ungefragt.

Motivkerne wie Schamhaare und Terrorkochen

Gegen zerrüttete Beziehungen hilft nur Literatur. Zerwürfnistexte bilden in diesem Jahr eine eigene Gruppe. Man könnte auch andere Motivkerne bilden: Schamhaare, Terrorkochen, Adoleszenzkunde; ganz sicher aber bilden technisch versierte, gewissermaßen au point geschriebene Arbeiten eine Klasse für sich, die sich der interpretatorischen Potenz der Juroren förmlich entgegenbäumen.

Womit man wieder beim Thema Beziehungen wäre. Heinz Helle liefert eine frostig-coole Szenenfolge aus dem Privatleben schöner, kreativer Menschen wie sie sich in diesen Tagen auch zwischen Wörthersee und ORF-Theater zahlreich tummeln. Bei Helle spiegelt sich in den glatten Oberflächen ihrer erfolgreichen Lebenseinrichtung ein gleißender Individualismus, der alles Individuelle aufzehrt. Dass der Text, selbst auf Hochglanz poliert, mit dem Ernst-Willner-Preis belohnt wurde, könnte man auch als ironische Fortsetzung des von ihm gestalteten Problems begreifen. Ähnliches lässt sich über die prämierten Pubertätsexkursionen von Benjamin Maack (3Sat-Preis) und Verena Güntner (Kelag-Preis) sagen: dass es sich in Klagenfurt stets lohnt, genau das in den Texten zu versenken, was die Juroren dann dankbar hervorschnüffeln und apportieren können.

Andere Auftritte sind Paradebeispiele für das, was in Klagenfurt auf das Glück, eingeladen worden zu sein, folgen kann: Gericht, Urteil, Hinrichtung. „Die Sätze haben eine Tendenz zu verunglücken“ (der Juryvorsitzende Burkhard Spinnen über Anousch Mueller). „Die Welt im Teebeutelsprüche-Format“ (Meike Feßmann über Nikola Anne Mehldorn). „Dieser Text handelt nicht vom Unglück, er ist selber eins“ (Paul Jandl über Nadine Kegele, die sich über dieses Urteil immerhin mit dem Publikumspreis trösten kann).

Wie im letzten Jahr eine Russin, die auf Deutsch schreibt

Kritische Auslöschung ist eine Sache. Manches luftige Gebilde verpufft dagegen eher in beflissener Überinterpretation. „Ich nicke wie ein Wackeldackel auf der Hutablage“, bemerkt Spinnen zum argumentativen Pingpongspiel seiner Kollegen. Und bisweilen spricht er auch so, rhetorisch ausbalanciert und doch oft selbstgefällig auf der Stelle tretend.

Sei’s drum. Am Ende gewinnt der beste Text den Hauptpreis: „Vielleicht Esther“ von Katja Petrowskaja. Wie im letzten Jahr eine Russin, die auf Deutsch schreibt. Wieder ein Text, der mit leichter Hand den Schleier der Geschichte hebt, um mit den Mitteln der Literatur deren Grauen zu mildern, in diesem Fall die Ermordung ihrer jüdischen Großmutter in Kiew während des Zweiten Weltkriegs. Die deutschsprachige Literatur vollzieht jenen gesellschaftlichen Wandel mit, der längst unsere alltägliche Erfahrung prägt: dass man überall geboren sein kann, um hier zu leben. Die Fußball-Nationalmannschaften haben dieses schon gelernt. Und weil man Fußball und Literatur nicht gegeneinander ausspielen sollte, erklärt der Generaldirektor des ORF, Alexander Wrabitz, zur Krönung der Preisverleihung den Bachmann-Wettbewerb für gerettet. Alle sind gerührt, vor allem die Pressefrau von Suhrkamp, denn Petrowskaja ist eine Autorin ihres Verlages, dessen literarischer Instinkt offenbar noch funktioniert. Der Wackeldackel Spinnen grüßt ergriffen via 3Sat seine Mutter. Und wir werden nächstes Jahr wiederkommen, denn wir brauchen das Buch.