Wer hat die Nase vorn im Wettbewerb um das deutsche Start-up-Mekka? Berlin hat zurzeit die nationalen und internationalen Schlagzeilen für sich. Baden-Württemberg hingegen punktet mit Solidität. Das ist jedoch nicht nur von Vorteil.

Stadtentwicklung & Infrastruktur: Andreas Geldner (age)

Berlin/Stuttgart - Der Fabrikhof in Berlin-Kreuzberg sieht aus, als sei die Wäscherei, die hier bis vor vier Jahren residierte, gerade ausgezogen. Auch drinnen pflegt das Betahaus das „Beta“ im Namen – im Internetjargon steht das für unfertige Projekte. Von den Farbflecken auf den Böden bis zu Möbeln aus dem Sperrmüll ist das kreative Chaos Programm. Auf ein „Hackathon“ im vierten Stock, wo spontan zusammengewürfelte Teams auf einer Marathonsitzung Programme fürs Online-Shopping basteln, verweisen handgekritzelte Zettel. Jeden Morgen formieren sich die Tischgemeinschaften neu: Laptop neben Laptop, ohne die festen Strukturen eines normalen Büros. „Hier ist immer frischer Wind“, sagt Madeleine von Mohl, eine Mitgründerin des Betahauses: „Wer hier arbeitet,muss sehr offen und flexibel sein – und Lust am Teilen haben.“

 

Schon bevor sie interviewt werden können, schieben Moritz Kreppel und Alexander Steinhart, zwei Mieter im Bürokomplex, sich die Smartphones zu. „Was macht ihr? Cool…“ Kreppel bastelt mit seinem Team an einer elektronischen Mitgliedskarte, die Angebote verschiedener Sportclubs verknüpft. Die Gründertruppe des aus dem oberschwäbischen Mengen stammenden Steinhart will unter dem provokativen Arbeitstitel „Master and Slave“ einen Filter entwickeln, mit der Smartphone-Süchtige die Nutzung ihres Gerätes limitieren können. „Wir sollten uns zum Mittagessen treffen,“ sagt Kreppel. Begegnungen wie diese gehören zum Labor Berlin. Die Mieten sind niedrig – wenn man sie an Start-up-Metropolen wie London misst. Doch entscheidend ist etwas anderes. „Berlin ist ein Lernumfeld. Man muss reinkommen, aber dann ist es ein echtes Miteinander“, sagt Steinhart. „Wir haben unseren Designer im Betahaus gefunden, kamen über Netzwerkevents an andere Firmen heran“, sagt Kreppel: „Das ist anderswo in Deutschland nicht reproduzierbar.“

Schlagzeilen hat das inzwischen bis in die USA gemacht. Im März ist Bundeskanzlerin Angela Merkel durch das IT-Mekka in ihrer Nachbarschaft getourt. Aber noch fehlen Investoren und internationale Erfolgsgeschichten. Zwar haben etwa die Investoren-Brüder Samwer mit ihrem Start-up-Turbo „Rocket Internet“ in Berlin den erfolgreichen Online-Schuhhändler Zalando hochgepäppelt und versuchen eifrig IT-Ideen zu kopieren, die anderswo auf der Welt erfolgreich waren. Doch was ist Hype – und was hat Substanz?

Der alternative Touch in mancherorts schon von gestern

Sechs Kilometer vom Betahaus entfernt, im Stadtteil Prenzlauer Berg, ist es nicht mehr der leise Hauch der Anarchie, der die Gründer in die hellgrün gestylten Büroräume der „Mobilesuite“ lockt. 40 bis 60 solcher „Coworking-Spaces“ gibt es in der Hauptstadt – ein deutscher Rekord. Ein Schreibtisch mit Rundumbetreuung lässt sich hier monate-oder wochenweise mieten. Ein Bistro mit Kaffee-Flatrate und dem Hacker-Kultgetränk Mate gibt es auch. Doch der alternative Touch ist passe. Hier steht das Geschäft im Mittelpunkt.

„Hierher kommen die Leute, denen es im Betahaus zu laut und chaotisch ist“, sagt Benjamin Roth von „Mobilesuite“. In den Räumen eines ehemaliges Finanzamts ist hier 2011 eine Insel für Kreative entstanden. „Berlin ist ein Ort, wo du Dinge testen kannst“, sagt Roth. Frank-Steven Eichholtz, der in der Mobilsuite sein Büro hat, wurde 2010 von „Rocket Internet“ nach Berlin gelockt. Nun sucht er nach Investoren für seine Gründung „UFO Start“, die das so genannte Crowdinvesting im Internet mit intensiver Gründerberatung verbinden soll. Er kennt München, Köln, New York: „Irgendwann war es ein Selbstläufer nach Berlin zu gehen, weil es sich herumgesprochen hat, dass du hier Internet und Unternehmertum verbinden kannst.“ Eichholtz lobt vor allem Berlins Internationalität: „Viele junge Menschen finden es spannend, hierher zu kommen.“ Die Stadt sei ein guter Ausgangspunkt fürs Marketing. „Wir wollen in drei Jahren 10 000 Unternehmen zur Gründung verhelfen“, sagt Eichholtz, wohl wissend, dass das ein kühnes Statement ist.

Aber in Berlin gehört das zum guten Ton. Auf einem vom Bundeswirtschaftsministerium gesponserten Gründertag an der Karl-Marx-Allee hat das jüngst der sich als „Seriengründer“ titulierende IT-Entrepreneur Christian Vollmann, der für den Bundesverband Deutsche Startups sprach, so formuliert: „Es geht nicht darum, irgendeine Trendlinie zu ändern, sondern die Welt. Think big – das ist, was wir mehr in Deutschland brauchen.“

Solche Töne werden anderswo kritisch gesehen, gerade in Baden-Württemberg, das der leise Antipode zur lauten Hauptstadt ist. Das Land hat, woran es Berlin mangelt: Technologisches Know-how , das in Unternehmen und an den Hochschulen verankert ist. Seit zehn Jahren fördert die landeseigene MFG-Stiftung für Innovation und Medien kreative Projekte in der Frühphase. Die vor 15 Jahren gegründete Wirtschaftsinitiative Baden-Württemberg connected (Bwcon) berät IT-Gründer. Die Softwarefirma SAP ist eine Weltmarke, selbst das Internetportal Web.de hat seine Wurzeln am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). „Wir schaffen - die schwätzen“, sagt Ulrich Dietz von der Stuttgarter IT-Firma GFT-Technologies über den Hype um Berlin: „Da gilt jede Minibude gleich als das neue Facebook.“ Baden-Württemberg fehle aber die internationale Perspektive. Auch die großen Unternehmen der Region stünden allzu oft an der Seitenlinie. „Was wirklich Erfolg versprechend ist, können sie nicht über Förderprogramme herausfinden“, sagt Dietz. Im globalen Konkurrenzkampf um IT-Talente spielt das Image eine Rolle. Berlin lockt – doch wo liegen Karlsruhe und Stuttgart?

Baden-Württemberg – der leise Antipode zum lauten Berlin

In Stuttgart führt der Weg in die Zukunft nicht durchs Gründercafé, sondern über einen Paternoster-Aufzug. Ein Häuflein junger Kreativer brennt im dritten Stock der MFG Innovationsagentur in der Nähe der Liederhalle darauf, den Schritt zur Unternehmensgründung zu wagen. Die Sieger des 2009 etablierten Innovationswettbewerbs „BW goes mobile“ präsentieren ihre Ideen. „Buy or burn“ heißt eines der Konzepte: Noch während ein Nutzer im Laden steht, soll er sich in der neuen Hose oder Jacke mit seinem Smartphone fotografieren – und von Freunden das Feedback bekommen, ob er das Kleidungsstück kaufen soll. Eine andere App namens „Shake n’Dress“ lässt Modebewusste ihr Kleidersortiment im Schrank mit dem Smartphone abfotografieren. Einmal das Telefon schütteln – und aus den gespeicherten Bildern rüttelt sich ein Outfit zusammen. Bunter geht das auch nicht in Berlin.

Im Organigramm auf der Leinwand scheint der Weg in die Selbstständigkeit sauber geebnet: Erst kommt die Förderung durch die MFG. Dann geht der Staffelstab auf Bwcon über. Deren Experten beugen sich über das wirtschaftliche Potenzial. Doch Wettbewerbe können nur eine Handvoll glücklicher Sieger fördern. Unweit des MFG-Förderzentrums ist am selben Tag im Stuttgarter Fruchtkasten zu besichtigen, wie schwer es oft ist, Gründerpotenzial zu heben.

Das Karl-Steinbuch-Stipendium, dessen Preisträger sich vor der Kulisse der Cembalos und Klaviere aus der Instrumentensammlung des Württembergischen Landesmuseums versammeln, ist einer der Versuche, kreative Köpfe zu fördern. Nicht alle Ideen drehen sich hier um die Informationstechnologie. Doch einige Preisträger stehen vor der schwierigen Weichenstellung zwischen einer wissenschaftlichen Laufbahn, einem Brotberuf – oder der Selbstständigkeit.

Wie ist der Gründergeist wachzukitzeln?

Markus Tralls und Christian Mohr, die sich im Studiengang „Online-Medien“ an der Hochschule Furtwangen kennengelernt haben, gehören zu denjenigen, bei denen der Unternehmergeist wach zu kitzeln wäre. „Idetic - das digitale Gedächtnis“ heißt ihre Idee, die für eine Semesterarbeit geboren wurde. Alle paar Minuten soll eine Minikamera am Knopfloch den Alltag protokollieren. Die Daten werden dann durch eine innovative Software sortiert und im sogenannten „Lifelogging“ dokumentiert. Fast erschrocken stellte die studentische Arbeitsgruppe fest, dass darin eine Geschäftsidee stecken könnte. Ein paar Mitglieder sprangen ab – nur ein harter Kern blieb übrig und spann die Idee vom Start-up weiter. Tralls, der inzwischen an der gründerfreundlichen Hochschule für Medien in Stuttgart studiert und zwei weitere IT-Ideen im Kopf hat, juckt es in den Fingern: „Ich hätte schon den Antrieb, damit einmal Geld zu verdienen“. Doch wie weiter? Fördertöpfe gebe es eigentlich genug, sagt er: „Aber es ist immer ein Riesenaufwand, einen Antrag zu erstellen. Das hat so viel Zeit gekostet, dass ich unterdessen nicht am Projekt arbeiten konnte.“ Ihm fehlt das Klima für Visionen. Sein Vorbild ist der US-amerikanische Unternehmer Elon Musk, der zunächst das Internetbezahlsystem Paypal etabliert hat: „Der hat gegen die versammelte Weisheit der Autoindustrie im Alleingang das Elektroauto Tesla entwickelt und bietet inzwischen Raumschiffe für die Nasa an.“ Sein Mitstreiter Christian Mohr erzählt von einem regelmäßigen „Gründer-Grillen“ in Karlsruhe: „Du musst Leute finden, denen du von deiner Idee erzählen kannst, selbst wenn sie erst am Anfang steht.“

Andere Preisträger wie der Wirtschaftswissenschaftler Timm Teubner und der aus Schweden stammende Elektroingenieur Anders Dalen werden sich wohl gegen eine Gründung entscheiden. Am Karlsruher KIT ist ihre Idee für ein innovatives, mit dem Internet verbundenes Strommessgerät nicht im Labor, sondern bei lockeren Gesprächen im Institut entstanden. Die Erfinder waren über das Interesse überrascht, das Stromerzeuger an ihrer Idee zeigten.

„Dass aus der Forschung Startups entstehen, ist nicht typisch. Es sind zwei Welten: In der Wissenschaft zählt, was publizierbar ist. Und publizierbar ist etwas, das ähnlich ist, wie etwas, was es schon gibt“, sagt Teubner. „Für uns war nicht nur die finanzielle Förderung entscheidend, sondern der Motivationsschub“, sagt er über das Stipendium. Doch es fehlen Vorbilder für den Sprung ins Risiko. In den Familien Teubner und Dalen gibt es Chemiker, Architekten, Physiotherapeuten, Hausfrauen, aber keine Unternehmer. Es fehlt auch der Kontakt mit Gründern in einer ähnlichen Lage, welche einmal spontan die Smartphones mit ihren Ideen über den Tisch schieben. „Man hört schon Erfolgsgeschichten, aber daneben gibt es die 35 Geschichten, wo die Dinge nicht so geklappt haben, wie man möchte,“ sagt Teubner. Eine Prise Berliner Risiko- und Experimentierfreude – die entsteht wohl nicht im badischen Labor.

Ein Überblick über IT-Gründungen in Deutschland

Tiefpunkt –
Deutschland habe verlernt ein Gründerland zu sein, so lautet die Klage des Bundesverbands Deutsche Startups, der Interessenvertretung der IT-Gründer. Die Walldorfer Softwarefirma SAP sei das einzige Dax-Unternehmen, dessen Gründer noch lebten. Die jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes untermauern diese Klage: Im Jahr 2012 war die Zahl der durch Gründer geschaffenen Arbeitsplätze mit 383 000 so niedrig wie seit 2005 nicht mehr. Einziger Lichtblick war der IT-Sektor. Im Jahr 2011 beispielsweise lag laut einer Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim die Zahl der Gründungen mit 8000 um ein Drittel über dem Durchschnitt seit Mitte der neunziger Jahre.

IT-Hochburgen
– Die führenden Gründerregionen für die IT-Branche in Deutschland waren laut der vom Branchenverband Bitkom in Auftrag gegebenen Studie des ZEW in den Jahren 2008 bis 2011 München und Berlin. Auch wenn die deutsche Hauptstadt statistisch nur auf Platz zwei liegt, ist die dort in den vergangenen fünf Jahren gewachsene Struktur für Gründer in Deutschland eine Besonderheit. Während in Bayern viele Fördergelder fließen, ist die Berliner Szene organisch entstanden – und wurde erst danach von der Politik entdeckt. Baden-württembergische Metropolen schaffen es nicht in die Spitzengruppe. Frankfurt, Hambur g und Köln/Düsseldorf liegen bei IT-Gründungen vor Stuttgart, Karlsruhe oder Heidelberg.

Hürden
– Was der deutschen IT-Gründerszene fehlt, ist vor allem der Zugang zum nötigen Kapital. Während Politiker und Wirtschaftsförderer in den meisten Bundesländern die IT-Startups inzwischen entdeckt haben, fehlen immer noch die etwa in den USA selbstverständlichen Kapitalgeber, welche die heikle Startphase finanzieren. Zwar gelang es der sich zurzeit besser organisierenden Gründerlobby Ende Februar ein Gesetz zu stoppen, das solche Investitionen steuerlich unattraktiv gemacht hätte. Doch das komplizierte deutsche Insolvenzrecht, das einen Neustart nach Misserfolgen erschwert, gilt immer noch als Hürde. Auch die relativ gute Lage auf dem Arbeitsmarkt lässt viele vor dem Risiko einer Gründung zurückschrecken.