Über keinen Beruf wird gerade mehr diskutiert als über den des Lokführers. Bei Sven Hoffmann stehen die Räder nie still. Für den Hessigheimer Bahn-Chef ist ein Streik völlig unvorstellbar.

Region: Verena Mayer (ena)

Hessigheim - Für einen Bahn-Chef ist Sven Hoffmann angenehm unaufgeregt. „Ja, ja, kommet Se ruhig, mir fahret uff jeden Fall“, antwortet er auf die Frage, ob die Räder seiner Züge denn noch rollen. Für einen Bahn-Chef ist Sven Hoffmann auch angenehm leger, denkt man bei der Ankunft an seinem Bahnhof ein paar Tage später. Sven Hoffmann trägt eine blaue Jogginghose und ein graues Sweatshirt, dazu sehr ausgetretene Turnschuhe. Er muss es bequem haben bei seiner Arbeit. Gut möglich, dass er heute mal wieder in den Berg kriechen und eine seiner Loks auf Spur bringen muss oder einen Passagier aus dem See vor der Wartestation retten.

 

Die Bahn, deren Chef der 46 Jahre alte Sven Hoffmann ist, fährt auf Gleisen, die 45 Millimeter breit sind. Sein Bahnhof ist der Vorgarten seines Hauses in Hessigheim. Und der einzige Grund, der Hoffmanns Züge im Depot halten kann, ist richtig mieses Wetter. Dann hat nicht mal der Bahn-Chef Lust, Bahn zu fahren.

Die rote Allegra rollt ein: „Bitte Vorsicht am Gleis zwei! Der Bernina-Express nach Tirano. Abfahrt 14.44 Uhr.“ Am Bahnhof am See – nicht zu verwechseln mit dem Hauptbahnhof, dem Bahnhof am Berg und dem Südbahnhof an den anderen Ecken der Anlage – schnappen Männchen ihre Rucksäckchen. Mini-Geschäftsreisende stehen mit Köfferchen bereit. Kindchen auf den Ärmchen von Väterchen winken Passagierchen im Panoramawagen zu.

Aufbruch ohne Chaos, Trubel ohne grimmige Gesichter, hier hat alles seine Ordnung. Egal, ob es tatsächlich 14.44 Uhr ist oder vielleicht erst halb zwölf oder doch schon fünf. Gestörte Signale gibt es bei der Gartenbahn nicht. Defekte Weichen kennen die kleinen Reisenden nicht mal aus der Zeitung, die am Bahnhofskiosk aushängt. Wenn hier mal ein Zug stehen bleibt, dann weil es einen Kurzen gab. Entgleisungen finden allenfalls statt, weil eine Lok auf einen Waggon vor ihr fährt. War der Meister am Schaltpult wahrscheinlich unkonzentriert. „En Ofall ghert drzu“, sagt Hoffmann, mit dem man während der Fahrt gerne sprechen darf. Mehr als ein Krätzerle am Zug hat der Werkzeugmachermeister und Konstrukteur noch nie beklagen müssen. Und die paar Sekunden Verspätung – was soll’s.

Schlimmer Schneckenschleim

Früher haben Hoffmann Schnecken zu schaffen gemacht. Ihr Schleim auf den Gleisen hat regelmäßig den ganzen Verkehr lahmgelegt. Aber seit das Grünzeug im Gelände durch 20 Tonnen Split ersetzt wurde, haben sich die Schnecken verkrochen.

Sven Hoffmann hat sich in die erste Gartenbahn verguckt, die er erblickte. Sie fuhr über den Rasen eines Grundschulkameraden. Erst vor 14 Jahren jedoch hat eine Gartenbahn auch bei den Hoffmanns Einzug gehalten. Sie war das Weihnachtsgeschenk für Sohn Tobi. Anfangs drehte das Zügle seine Runden um den Christbaum. Doch binnen einer Woche lieferte das Christkind einen weiteren Kreis nach, ein Abstellgleis und vier Weichen. Als für Ehefrau Heike mit dem Staubsauger kein Durchkommen mehr im Wohn-und Esszimmer war, wanderte die Bahn auf den Dachboden und schnaufte dort weiter.

Über das Viadukt, selbst entworfen und erbaut von Sven Hoffmann, zieht der schnittige Lanxess-Express Waggons mit Möbeln und Bier. Durch den Bahnhof Süd, nur zu sehen, wenn man um das halbe Haus spaziert, fährt die gute Harzer Lok mit sechs voll besetzten Personenwaggons. Vor dem Berg, namenlos, aber versehen mit einem stilechten Gipfelkreuz, rüsten sich zwei legendäre Krokodile für den Anstieg. Ein einziges würde den Alpine Classic Pullmann Express nicht packen. Allein der Speisewagen wiegt drei Kilo. Auf allen Tischchen stehen Kaffeekännchen, Tässchen, Tellerchen. Sogar Kuchenstückchen sind darauf zu sehen. Sven Hoffmanns Mutter musste lange suchen, bis sie das winzige Puppengeschirr gefunden hatte. Verglichen damit war das Ziehen der Bonsais für das Bahngelände ein Kinderspiel.

Ärger mit dem Personal kennt der Hessigheimer nicht. Wenn Sohn Tobi keine Lust hat, am beeindruckend verkabelten Schaltpult die Weichen zu stellen, ist Sohn Lukas im Einsatz oder Tochter Alina oder Sven Hoffmanns Vater, der im selben Haus wohnt. „Bei ons streikt niemand“, sagt der Mann, der seine Fahrten im wirklichen Leben mit dem Auto zurücklegt.

Hessigheim 21

Ein gutes Jahr hat Hoffmanns Gartenbahn auf dem Dachboden verkehrt. Als auch der letzte Quadratmeter Speicherplatz für sie draufzugehen drohte, sprach Mutter Hoffmann ein Machtwort: „Der Zug ghert en Garte. Naus damit!“

In gewisser Weise begann für Familie Hoffmann damit das Bahnprojekt Hessigheim 21. Blumen verschwanden, Gemüse wurde versetzt, Sträucher mussten weichen. Sven Hoffmann hob eine Grube aus, füllte sie mit Beton und verlegte darauf Trasse um Trasse. Erst die kleine Runde, dann die große, dann die noch größere, die bis hinters Haus zum Südbahnhof führt. Dann das Viadukt und der Berg mit seinem kurvenreichen Innenleben. Und zuletzt die Zahnradbahn, die die Touristen vom See auf den Gipfel karrt – und zurück. Drei Minuten braucht ein Zug für eine komplette Runde, an schönen Wochenenden schafft eine Lok gute 20 Kilometer.

Mehr als 200 Meter Schienen liegen in dem ehemaligen Garten. Über 17 Weichen verfügt Hoffmanns Anlage. 33 Loks, 30 Personen- und 100 Güterwaggons stehen in seinen Diensten. „Bei mir fahrt, was mir gfallt“, sagt der Mann im grau-blauen Jogginganzug. Probleme mit Ersatzfahrzeugen kennt er nur vom Hörensagen.

Vor sieben Jahren ist Sven Hoffmann schwer krank geworden – das Herz, mit 39. Keiner konnte sagen, ob er es packen würde. Er hat es gepackt. Und es ist nicht übertrieben zu sagen: Seine Züge haben ihm dabei geholfen. Sven Hoffmann sagt, die Bahn habe ihm damals Lebensmut gegeben. Unbedingt habe er weiterbauen wollen. Seinen Oberarzt brachte der Patient sogar so weit, dass er grünes Licht für ein paar Loks im Krankenzimmer gab. Doch dann verwandelte sich das Einzelzimmer in ein Doppelzimmer, nicht in ein Spielzimmer. Sven Hoffmann wurde trotzdem gesund.

Schulklassen staunen

Vor dem Zaun in der Straße, deren genaue Lage wegen der Versicherung nicht genannt werden soll, kommt ein Ehepaar in bunten Outdoorjacken zum Stillstand. Sprachlos blickt es auf die Züge. Keine Frage: der Herr und die Dame sind Fremde. Unter den Einheimischen gibt es niemanden, der den Hessigheimer Bahnhof nicht kennt. An schönen Sonn- und Feiertagen locken die Loks Heerscharen an. Von dem Kleingeld, das mancher Zaungast hinterlässt, spendiert Sven Hoffmann seinen fleißigen Kindern dann ein Eis. Sogar Schulklassen reisen an und Kindergartengruppen, um die Gartenbahn zu bestaunen. Man weiß nicht, wer an solchen Tagen glücklicher ist: die Kinder, die noch eine Runde Zug gucken wollen und noch eine und noch eine. Oder Sven Hoffmann, der für solche Besucher sogar einen Tag Urlaub nimmt.

Vor dem Zaun spricht die Frau in der bunten Jacke schließlich zu ihrem Mann: „Das müssen wir mal dem Stefan sagen.“ Der Stefan ist wahrscheinlich der ebenfalls ortsunkundige Sohn. Höchstwahrscheinlich wird sich das bald ändern.

Die Käserei auf dem Berg ist weggeräumt, die Sonnenanbeterin auf der Bank davor ebenso. Die Almhütte steht nicht mehr. Die Brotzeitler sind auch verschwunden. Der Hochsitz ist abgebaut. Die Hirsche und Rehe sind verstaut. Der Alphornspieler, der Schäfer, das Brautpaar vor der Kirche – alle fort, im Winterquartier. Auch für den Imbiss am See und die letzten Spaziergänger und Gipfelstürmer wird es jetzt höchste Eisenbahn, sonst bleichen die Farben unnötig aus. Schlimm genug, dass die verrückten Amseln regelmäßig Wanderer zu den Kois in den See werfen oder Blumenkästen von den Fachwerkhäusern rupfen. Bis zum nächsten Frühjahr wird alles repariert sein.

Dann wird auch der Dorfplatz beim Hauptbahnhof verschönert. Sven Hoffmann plant unter anderem eine Post und eine Gaststätte. Natürlich bekommen alle Gebäude Stromanschluss, damit sie so warm leuchten können wie die Züge, wenn sie nachts fahren. Außerdem muss Sven Hoffmann die neuen Modelle in den neuen Gartenbahn-Katalogen studieren. Vielleicht gibt es eine Neuheit, die er unbedingt braucht. Man will ja nicht auf der Strecke bleiben. Überlegen, wo er noch Platz für mehr Schienen rausschinden könnte, muss er dann allerdings ebenfalls. Zug fahren wird Sven Hoffmann im Winter selbstverständlich auch. Hoffentlich schneit’s recht schön. Damit mal wieder der Schneepflugzug zum Einsatz kommen kann.

Ein Bahn-Chef, auch einer wie Sven Hoffmann, hat immer was zu tun.