Die S 1 fährt nur stündlich, die S 60 gar nicht, die Straßen sind verstopft. Viele steigen auf das Fahrrad um. Wer kann, arbeitet von zu Hause aus.

Sindelfingen - Mit Regenkleidung ausgerüstet, samt Sturzhelm und Rucksack, steuert Gabriel Doczekalski das Tor 5 im Daimler-Werk in Sindelfingen an. Er kommt mit seinem Fahrrad aus Ehningen – obwohl für den Abend Schauer angekündigt sind. Der 46 Jahre alte Mitarbeiter der Cockpit-Vormontage in Halle 36 hält das dennoch für die bessere Wahl, als das Auto oder die S-Bahn zu nehmen. Wegen des Lokführerstreiks bilden sich vor und nach der Schicht nicht nur rund um Sindelfingen kilometerlange Verkehrstaus. In der gesamten Region sieht es so aus.

 

Zu Stoßzeiten ist die Verkehrslage „katastrophal“

Die S-Bahnen wie die S 1 fahren nur stündlich, die S 60 zwischen Böblingen und Renningen verkehrt überhaupt nicht. Die Verkehrslage sei zu den Stoßzeiten „katastrophal“, sagt Olaf Gauß von der Böblinger Firma Eisenmann. Verschärft wird die Situation noch durch Baustellen, da ist auch Böblingen keine Ausnahme. Die Mitarbeiter von Firmen und Behörden bilden deshalb Fahrgemeinschaften, steigen auf den Drahtesel oder arbeiten, wenn möglich, von zu Hause aus.

Wie etwa Sarah Trede-Kritikakis, die Referentin des Böblinger Landrats Roland Bernhard. Ein Mal pro Woche habe sie bisher schon einen Home-Office-Tag, am kommenden Freitag lege sie einen zusätzlichen ein. Von ihrem Heimatbahnhof Tübingen nach Böblingen zu kommen sei „zurzeit echt schwierig“, sagt die 35-Jährige. Die Ammertalbahn fahre morgens um 6 Uhr und dann erst wieder zwei Stunden später nach Herrenberg, wo die Mitarbeiterin des Landrats in die S-Bahn-1 umsteigt. Weil diese wegen des Streiks nur stündlich verkehrt, nimmt Trede-Kritikakis das Auto – oder das Rad. Auf das sie auch sonst bisweilen steigt, um ins Landratsamt zu kommen. „Da bin ich auf jeden Fall pünktlich am Arbeitsplatz. Freilich, nach der Strecke über 26 Kilometer müsse sie duschen. Das sei kein Problem, im Keller der Behörde gebe es die Möglichkeit dazu.

Beschäftigte kommen viel zu spät zur Arbeit

Trede-Kritikakis hat am Mittwoch jedoch das Auto genommen und stand etwa eine dreiviertel Stunde an der Altdorfer Kreuzung bei Holzgerlingen im Stau. Dort wird die B 464 ausgebaut. Weitere Baustellen in Schönaich und auf der Panzerstraße entlang der Böblinger US-Kaserne, die in Richtung Böblingen gesperrt ist, sind der Grund dafür, dass oft nichts mehr geht. „Um halb acht Uhr morgens ist Chaoszeit, wegen des Streiks erst Recht“, sagt Olaf Gauß, der Betriebsratsvorsitzende bei der Firma Eisenmann. Der Anlagenbauer hat neben Böblingen auch in Holzgerlingen eine Fabrik. Von den 1600 Mitarbeitern kämen viele zu spät. Doch beim letzten Streik im April sei es noch schlimmer gewesen. „Drei bis vier Stunden Verspätung waren keine Seltenheit“, sagt Gauß. Der jetzige Streik sei wenigstens etwas früher angekündigt worden, „so dass man sich darauf vorbereiten konnte“. Es seien zahlreiche Fahrgemeinschaften gebildet worden.

Abgefangen werde das Malheur, wo es möglich sei, mit flexiblen Arbeitszeiten, erklärt Gauß. Auch die Beschäftigten anderer großer Firmen wie Agilent Technologies oder Hewlett Packard (HP) in Böblingen nutzen flexible Zeitmodelle oder arbeiten derzeit bevorzugt im Home-Office. „Das läuft relativ problemlos“, bestätigt der HP-Pressesprecher Patrik Edlund. Auch bei Daimler am Standort Sindelfingen mit rund 35 000 -Beschäftigten gibt es offiziell keinen Grund zur Besorgnis. „Die Produktion läuft“, versichert eine Firmenssprecherin. Parkplatznot herrsche keine.

Die S 60 fährt gar nicht

Die Anlieferung von Produktionsteilen werde durch das Transportunternehmen der Deutschen Bahn, DB Schenker, gesichert. Jens Herter, Meister im Sindelfinger Mercedes-Rohbau, hat dennoch Zweifel. Bis jetzt reiche das Material. Wenn der Streik aber bis Freitag dauere, könne es eng werden. „Dann sind noch mehr Lastwagen auf den Straßen“. Sie blockieren jetzt schon mitunter Parkplatzzufahrten, weil sich vor den Werkstoren lange Staus bilden.

Herter weiß von Mitarbeitern, die nach der Spätschicht nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause kommen. Die S 60 zwischen Böblingen und Renningen ist ganz außer Betrieb genommen worden. Trotz des zuletzt stark gestiegenen Fahrgastaufkommens mit rund 11 000 Pendlern an Werktagen. „Das war keine leichte Entscheidung“, erklärt ein Bahnsprecher, „auch Daimler hat man mitbedacht.“ Man wolle aber die Einschränkungen „im Gesamtsystem der S-Bahn so gering wie möglich halten“. Eine Strecke wie die S 1 mit den Stuttgarter Anschlüssen sei wichtiger.

Letzte freie Parkplätze ergattert

Gabriel Doczekalski kann das alles nicht schrecken. Er irrt nicht umher wie seine autofahrenden Kollegen, die vor Schichtbeginn noch einen der letzten Parkplätze ergattern wollen. Er steht pünktlich vor dem Tor 5. Und selbst wenn es nach der Schicht regnet, ist er gewappnet. Unberührt wird er die sieben Kilometer gen Ehningen radeln.