Die Stadt mutiert zum Zuschauerraum, ein Innenraum an der Willy-Brandt-Straße zur Bühne. Louis Stiens, einer der Choreografen vom großen Stuttgarter Ballett, hat sein neues Stück im Projektraum „Lotte“ herausgebracht: „Slam“.

Stuttgart - Auf der Bundesstraße 14 rollt geräuschvoll der Verkehr vorbei, um die Ecke stoppt alle zehn Minuten der SSB-Bus. Die wenigen Passanten eilen zumeist in Richtung der U-Bahn-Haltestelle Staatsgalerie. Nicht gerade ein Ort also, der zu konzentrierter Kunstbetrachtung einlädt. Aber genau diese unwirtliche Ecke an der Willy-Brandt-Straße hat sich Louis Stiens, das jüngste Choreografentalent des Stuttgarter Balletts, als Spielstätte für sein neues, zusammen mit einigen Mitstreitern aus der freien Szene realisiertes Stück „Slam“ ausgesucht. Durch die zwei Fenster des Projektraums Lotte betrachtet das Publikum die Ein-Mann-Performance.

 

Der Stadtraum mutiert zum Zuschauerraum, der Innenbereich der wohnzimmergroßen Off-Kunst-Lokalität zur rohen, ungeschönten Bühne. In einer Art grauer Zelle, die die Architektinnen Christine Nasz und Stefanie Hunold entworfen haben, ist der einsame Performer dort einem monotonen, zermürbenden Gefängnisdasein ausgeliefert, möglicherweise auch sich selbst und in jedem Fall den Blicken der Zuschauer. Louis Stiens hat diese Uraufführung für seinen Tänzerkollegen Robert Robinson geschaffen. Schon während ihrer Ausbildung an der John Cranko Schule hat Stiens die Soli „Mäuse“ und „Still Light“ für seinen damaligen Mitstudenten entwickelt. Inzwischen gehören beide dem Corps de ballet des Stuttgarter Balletts an, sind aber schon längst wieder auf dem Sprung weiter nach oben. Der stets durch seine Expressivität auffallende Robinson wird in der nächsten Saison Halbsolist; Stiens wurde mit einer Uraufführung für das Stuttgarter Ballett beauftragt.

Louis Stiens choreografische Arbeit ist unverkennbar von der Tanzsprache Marco Goeckes inspiriert, mit dem er bereits gemeinsam die Choreografie zur Ballett-Schauspiel-Koproduktion „Dancer in the Dark“ kreiert hat. Die Verbindung von Balletteleganz, der Polyzentrik des zeitgenössischen Stils und von Alltagsgesten kennzeichnet auch Stiens Arbeiten. Aber der Jungchoreograf setzt mehr als nur eigene Akzente. Für einen gerade mal Zwanzigjährigen hat er eine erstaunlich souveräne, eigenständige Handschrift. Und Robert Robinson ist ein Tänzer, der es vermag, die irrlichternden Seelenzustände, die die Choreografie in eine äußere Form fasst, glaubhaft zum Ausdruck zu bringen.

Alles jugendfrei, assoziativ und elegant

Den nackten Oberkörper gekrümmt, streckt Robinson die Hände wie in Abwehrbewegung vor; im Sitzen drückt er das Knie nach unten und den Arm weg, als wolle er die eigenen Gliedmaßen unter Kontrolle bringen. Dann wieder läuft er wie getrieben hin und her, macht hektische Liegestützen, liegt zappelnd in der Ecke, um mit den Händen die Wände des grauen engen Kubus abzutasten. Manche Bewegungen und Gesten zitieren unverkennbar den Alltag in einer Gefängniszelle, etwa wenn der Tänzer mit dem Finger unsichtbare Striche an die Wand malt, als würde er die Tage zählen. Manches, wie die Haltung eines Gekreuzigten oder das Markieren von Onanierbewegungen (jugendfrei mit dem Rücken zum Publikum), erklärt etwas zu offensichtlich. Aber meist gelingt es Stiens, Abstraktion und Bedeutung in einem spannenden, assoziativen Gleichgewicht zu halten. Obwohl der Duktus der Choreografie stark vom zeitgenössischen Tanz geprägt ist, scheint doch immer wieder die gerade Linie und die Eleganz des Balletts durch.

Insbesondere wenn die unheimlich irisierende Musik von György Ligeti und die folgenden Trommelklänge von einem wehmütigen Chanson abgelöst werden, wird die Bewegung fließender, tänzerischer im klassischen Sinn. Sind es die raren Momente der Harmonie und inneren Stille, die der Mann im Gefängnis ab und an findet?

Am Ende kauert sich Robert Robinson in schutzsuchender Embryo-Haltung wie zum Schlafen auf dem Boden zusammen. Die Musik ist verklungen. Das kalte Licht, das den Bühnenraum unbarmherzig ausgeleuchtet hatte (Lichtdesign: Tobias Hauff), geht aus. Geräusche und Treiben des Stadtalltags, die man für die nur viertelstündige, aber die Aufmerksamkeit intensiv absorbierende Performance völlig ausgeblendet hatte, drängen sich wieder ins Bewusstsein. „Slam“ ist eine gelungene, kontrastreiche künstlerische Begegnung zwischen den experimentellen Formen der freien Szene und der Ästhetik des Bühnentanzes.