Außen hart, innen Moralist – der englische Schriftsteller David Peace legt einen düster-pulsierenden Abgesang auf die Idee der solidarischen Gesellschaft vor. Die StZ-Autorin Jeanette Villachica hat sich mit ihm unterhalten.

Stuttgart - Als der Streik begann, der heute für David Peace das Ende der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in Großbritannien verkörpert, war er 17 Jahre alt. Er wuchs in Wakefield auf, mitten im Bergbaugebiet von Yorkshire. Seine Eltern waren Lehrer, und er wusste schon mit acht Jahren, dass er Schriftsteller werden wollte, aber in seiner Familie gab es viele Bergarbeiter, und er war mit den Kindern von Bergarbeitern befreundet. Als Margaret Thatchers Regierung ankündigte, alle defizitären Kohlebergwerke zu schließen und die übrigen zu privatisieren, brach in seiner Heimatregion ein einjähriger Arbeitskampf aus, der heftige Ausschreitungen im ganzen Land mit sich brachte. Bis März 1985 gab es zehn Tote, rund dreitausend Verletzte und über 11 000 Streikende wurden verhaftet. Die Pläne der Regierung wurden dennoch umgesetzt.

 

„Nach dem Streik war die Gemeinschaft am Ort zerstört, alles war zerstört, was von Menschen geschaffen worden war, die zusammengearbeitet hatten, nicht gegeneinander“, sagt David Peace. Seine klare, ruhige Stimme und seine freundliche, selbstironische Art kontrastieren mit seinem strengen Äußeren. Er wolle die Arbeit in den Zechen nicht beschönigen, aber heute sei Großbritannien ein Land wie viele andere, in dem es insbesondere unter jungen Menschen kein politisches Denken gebe. Das sei in Japan, wo er seit 1994 lebt, verheiratet ist und wo seine zwei Söhne aufwachsen, nicht anders. „Wenn meine Kinder an ihre Wahlmöglichkeiten denken, denken sie daran, welchen Kaffee sie bestellen sollen. Von Sozialismus und Kommunismus haben sie nie gehört.“

Die Gewalt nahm ständig zu

Während des Streiks unterstützte jeder in seinem Umfeld die Streikenden. Peace selbst fuhr zu Demonstrationen, die Punk-Band, in der er Mitglied war, trat zu Gunsten der Bergleute auf. Am „Anfang war es auch aufregend, aber die Gewalt nahm ständig zu, und der Streik nahm kein Ende.“ Irgendwann war er nur noch gelangweilt, wollte nichts mehr von Streikbrechern, Schikanen der Regierung und von der Hetze regierungstreuer Medien hören.

Als er anfing, für seinen dokumentarischen Roman „GB84“ zu recherchieren, der von den Ereignissen 1984/85 in West-Yorkshire erzählt und vor Kurzem auf Deutsch erschienen ist, entwickelte David Peace starke Schuldgefühle. Durch die Gespräche mit ehemaligen Streikenden und deren Familien „begriff ich erst, wie sehr sie gelitten hatten“. Zur Zeit des Streiks sei es ihm nicht wichtig genug gewesen, sich intensiver mit den Konsequenzen der Grubenschließungen zu beschäftigen. Den Einwand, dass er ein Teenager war und immerhin demonstriert hatte, lässt er nicht gelten. „Man hätte mehr tun müssen. Es gab schon damals Leute, die vorhersagten, wie sich unser Sozialsystem verändern würde.“

Klingender Abgesang auf eine solidarische Gemeinschaft

Wer eines der bisherigen acht Bücher von David Peace kennt, ahnte schon, dass auch „GB84“ wenig gefällig ausfallen würde. Weder die Rechte noch die Linke kommt in dem Roman gut weg. „Menschen sind nicht schwarz oder weiß, sondern grau“, sagt Peace. „Ich habe versucht, dieses Grau auszudrücken, diese fast chaotische Art, wie Menschen leben und denken müssen in der modernen Gesellschaft.“ Dafür hat er viele Stimmen von Spielern und Gegenspielern, dokumentarische und fiktive Fragmente, Ereignisse und Songs der 80er Jahre zu einem kühlen, distanzierten, stellenweise aber auch wütend stampfenden oder melancholisch klingenden Abgesang auf eine solidarische Gemeinschaft zusammengesetzt. Peace beleuchtet „diese dunkle und paranoide Zeit“ von allen Seiten, treibt seine Suche nach Ursache und Wirkung auf die Spitze, vermittelt Aufregung, Wut, Angst, Trauer, obwohl es keine Innensichten der Figuren gibt, weil er davon überzeugt ist, „dass man die Menschen nur daran erkennt, was sie tun und sagen“.

„GB84“ ist auch optisch in zwei Teile geteilt. Auf der linken Seite im Buch erzählen zwei Bergarbeiter chronologisch und manchmal quälend detailliert von ihrem Alltag im Streikjahr. Diese „Gospels“, wie Peace sie nennt, basieren auf Interviews und geben ausschließlich reale Erlebnisse wieder. Auf der rechten Seite mischen sich Geschichten von Unternehmern und Gewerkschaftern, Vertretern der Regierung, des Geheimdienstes und krimineller Milieus mit tatsächlichen Ereignissen zum skurrilen Reigen. Die fiktiven Verbrechen schmälern die Dramatik der Geschichte unnötig. Dies sei sein fünfter Roman gewesen, sagt Peace dazu. Heute würde er vermutlich auf die Krimi-Elemente verzichten.

Wozu sind Menschen fähig?

Als Grundlage für seine Romane nimmt er meist wahre Fälle, weil ihm die Fantasie dazu fehle, eine ganz neue Welt zu erfinden. „Es erscheint mir ganz unglaublich, wie jemand dazu fähig sein kann, beispielsweise Harry Potter zu erfinden und damit so viele Menschen glücklich zu machen.“ Das sei eine ganz andere Art des Denkens. „Ich kann nur über die reale Welt schreiben und die Menschen damit unglücklich machen.“

Außerdem versucht er durchs Schreiben zu verstehen, warum Verbrechen wie die Morde des „Yorkshire Rippers“, die ihm in seiner Jugend das Blut in den Adern gefrieren ließen und über die er sein „Red Riding Quartet“ geschrieben hat, zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten geschehen.

Wozu sind Menschen fähig? Eine Frage, die Peace auch bei der aktuellen Arbeit am dritten Band seiner Tokio-Trilogie beschäftigt. Es ist sein zehntes Buch. Früher hat er gesagt, er wolle nicht mehr als zwölf Romane schreiben. Bleibt er dabei? David Peace grinst hinter seiner schwarzen Nerd-Brille hervor. „Ich war damals nicht ganz auf der Höhe, deprimiert. Und ich sage öfter dumme Dinge. Das haben Sie vermutlich schon gemerkt.“