Der Tod ihres jüngsten Bruders, der mit 33 Jahren bei einem Radunfall verunglückte, brachte die Buchkünstlerin Roswitha Quadflieg zum Schreiben. 30 Jahre lang hatte die Grafikdesignerin in ihrer weltweit bekannten Hamburger Raamin-Presse Texte etwa von Goethe, Hölderlin, Kafka, Strindberg oder Beckett in bibliophile Kostbarkeiten von limitierter Auflage verwandelt. Sie gestaltete auch Michael Endes „Unendliche Geschichte“ für den Stuttgarter Thienemann Verlag. Schon als Kind, erzählt die ehemalige Waldorfschülerin, habe sie immer gemalt, Theater gespielt und gesungen. Weil sie den Verlust des nur ein Jahr älteren Bruders nicht grafisch ausdrücken konnte, begann sie zu schreiben. „Ich denke genauer, wenn ich schreibe“. Durch Samuel Beckett, dessen Hamburger Tagebuch sie kommentiert herausgebracht hat, habe sie gelernt zu schweigen und zu reduzieren. „Ich reduziere, ordne, reduziere.“ Familie, Ehe und Tod sind wiederkehrende Themen in ihren schmalen, aber dichten Büchern, in Hörspielen und Theaterstücken. „Die Einsamkeit des Menschen, seine Brüche und Abstürze“ interessieren sie.

 

Die Mutter, mit der sie jahrelang Wand an Wand in einem Doppelhaus wohnte, habe ihre Texte „ganz toll kommentiert“ und sei ihr „nie auf die Pelle gerückt“, sagt die 65-jährige Autorin. Aus schwedisch-baltischem Hochadel stammend, hatte die Schwedin mit 17 Jahren auf Capri den drei Jahre älteren Will Quadflieg kennengelernt. 1940 heirateten der Schauspieler und die Medizinstudentin. „Sie trug ihm nichts nach. Nicht seine ständigen ‚Seitensprünge‘, nicht seine zweite Ehe“, notiert die Tochter, als sie im Pflegeheim einen Zettel mit dem Kosenamen findet, den der Vater seiner ersten Frau gegeben hatte. Ihre Lebensaufgabe fand die Mutter in der anthroposophischen Heilpädagogik für „ungewöhnliche“ Kinder, wie sie behinderte Pfleglinge nannte. In ihren klaren Phasen sorgte sich die engagierte Frau bis zu ihrem Tod um das von ihr gegründete Hamburger Institut für beeinträchtigte Klein- und Kitakinder.

Mit dem Tod schwanger gegangen

„Warum fällt das Weggehen so schwer“, fragt sich die Tochter, die damals zwischen Freiburg und Hamburg pendelt, ein ums andere Mal am Sterbebett der Mutter. Als Benita Quadflieg-von Vegesack neun Monate nach der ersten Angstattacke im Sommer 2011 stirbt, kommt es der Tochter so vor, als sei die Mutter mit dem Tod schwanger gegangen. „Jedenfalls findet eine Entwicklung statt, ein Werden in all dem Vergehen, an dessen Ende der Tod Erlösung sein wird – und Neubeginn. Für alle.“ Ein Jahr nach dem Tod der Mutter macht Roswitha Quadflieg ihren Neubeginn. Nach einer schweren Viruserkrankung und der schwierigen Trennung vom Partner verlässt sie Freiburg, löst ihre Hamburger Wohnung auf und zieht nach Berlin. Dort trifft sie schon bald ihren neuen Lebensgefährten, einen ebenfalls zugezogenen Stuttgarter Orthopäden, der einst als Student DDR-Flüchtlinge nach Westberlin brachte und heute die Melancholikerin wieder zum Lachen bringt.