Am Donnerstag startet die Berlinale. Die Vergabe des Goldenen Ehrenbären hat es sonst schwer im dichten Terminkalender des Festivals. Doch in diesem Jahr ist das anders.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Berlin - Von den vielen Programmpunkten der Berliner Filmfestspiele hat es einer traditionell schwer: die Vergabe des Goldenen Ehrenbären. Für die Fans des roten Teppichs ist solch ein Termin, wenn diese Ehre beispielsweise Drehbuchautoren oder Kameraleuten zuteilwird, nicht glamourös genug. Und für die Freunde der reinen Filmkunst ist schon die Idee eines Ehrenpreises entschieden zu viel des Glamours. Derart zwischen den Fronten droht dann auch die Ehrenbär-Berichterstattung in den Medien unter „ferner liefen“ zu landen.

 

Doch bei der diesjährigen Berlinale, die morgen beginnt, wird das mit Sicherheit anders. Der Festivalchef Dieter Kosslick hat eine Preisträgerin verkündet, deren künstlerischer Rang quer durch alle Fraktionen unbestritten ist. Deren neuester Film liefert zwei Wochen vor dem offiziellen Start in Deutschland bereits Gesprächsstoff: „Die Eiserne Lady“. Wobei, das ist das Sahnehäubchen obendrauf, Meryl Streep für die Darstellung der einstigen britischen Premierministerin Margaret Thatcher längst schon wieder für den Oscar nominiert ist. Mithin ein Festivalcoup von der Sorte Triple-A.

Was hebt Meryl Streep aus der Menge hervor? Sie hat etwas erreicht, was vielen ihrer Kolleginnen in Hollywood nicht vergönnt ist. Irgendwann überschreiten diese bekanntlich jene magische Altersgrenze, von der an sie nach Meinung der Castingbüros selbst mit der besten Maske der Welt nicht mehr für Rollen in den üblichen Komödien oder Liebesfilmen und dem dafür nötigen Roten-Teppich-Rummel infrage kommen. Viele gute Schauspielerinnen verschwinden so erst aus dem Geschäft und sodann aus dem Bewusstsein des Publikums. Kein Marktwert mehr.

Das große Ganze gerät nicht aus dem Fokus

Es sei denn, man erspielt sich schon in jüngeren Jahren einen Rang, der alle Fragen nach einem Altersknick verstummen lässt. Die Filmografie von Meryl Streep umfasst nach deren Ausbildung im Theater und ihrem Kinodebüt 1977 in dem Drama „Julia“ von Fred Zinnemann unglaubliche fünfzig große Rollen allein auf der Leinwand, quer durch alle Genres. Wobei von dieser Liste mehr als ein Drittel durch zwei Oscars und fünfzehn weitere Oscarnominierungen noch weiter veredelt ist. Spätestens hier schlägt Qualität dann auch wieder in Marktwert um: Irgendwann hat auch der ängstlichste Produzent erkannt, dass bei derlei Voraussetzungen kein Film, für den auf den Plakaten mit dem Namen Meryl Streep geworben werden kann, ein völliges Desaster werden kann.

Wenn man so will, ist dies die einzige Gefahr, in der Streep in jüngerer Zeit schwebt: dass sich Regisseure und Produzenten allzu sehr auf ihre Kunst und die Zugkraft ihres Namens verlassen und deshalb nach erfolgreichem Vertragsabschluss außer Acht lassen, dass zu einem herausragenden Film natürlich auch ein ausgefeiltes Drehbuch und eine spannende Dramaturgie gehören. Meryl Streep selbst ist durchweg in glänzender Erinnerung: als herrlich zickige Chefredakteurin in der Komödie „Der Teufel trägt Prada“ ebenso wie als herrische Nonne in dem Missbrauchsdrama „Glaubensfrage“ oder als schrille Fünfziger-Jahre-Kultköchin Julia Child im Lustspiel „Julie & Julia“. Die Filme als Ganzes hatten aber deutliche Schwächen und sind im Gedächtnis schon wieder passé.

Den Fehler, angesichts von Meryl Streep am Set das große Ganze aus dem Blick zu verlieren, macht die britische Regisseurin Phyllida Lloyd in der BBC-Kinoproduktion „Die Eiserne Lady“ gewiss nicht. Ihr dramaturgischer Ansatz, die Lebensgeschichte von Margaret Thatcher ganz aus der Perspektive der schon deutlich an Alzheimer leidenden alten Frau zu erzählen, ist ebenso spannend wie die ausgefeilte Montage aus Rückblenden oder die zeitweise beinahe choreografische Bildersprache. Weswegen „Die Eiserne Lady“ dennoch Publikum und Kritik stark polarisieren wird –in Großbritannien jedenfalls tut der Film das bereits seit Wochen –, das ist die Weigerung des Films, das politische Werk Thatchers klipp und klar, im Zweifel auch kontrovers oder gar kritisch einzuordnen.

Phyllida Lloyd erzählt deren Aufstieg aus der unteren englischen Mittelschicht mitten hinein in die Machtzentralen dieser Welt als ganz erstaunliche Frauenkarriere-, als höchst farbige Emanzipationsgeschichte. Das war sie auch, keine Frage. Aber doch nur zum Teil. Daneben war die Politikerin Thatcher zugleich eine erzkonservative Zwangsmodernisiererin, die gesellschaftliche Spaltung ganz unemanzipativ als politisches Instrument einsetzte. Indem der Film dies zum historischen Beiwerk erklärt, ruft er die merkwürdige Konstellation hervor, dass „Die eiserne Lady“ in Großbritannien den Linken sehr nachvollziehbar viel zu unkritisch ist, den Konservativen aber (ebenso nachvollziehbar) zu despektierlich.

In einem Punkt aber sind sich Kritiker und Publikum auch im Thatcher-Mutterland Großbritannien einig: Das Spiel der Meryl Streep ist einfach phänomenal. Ihre Darstellung einer alten Frau, die Großes aus ihrem Leben im Sinn hat und just diesen klaren Sinn zu verlieren droht, ist still, fein, beklemmend, verzichtet weise auf jede hohle Form und jede schauspielerische Attitüde, ist viel zu komplex, als einfach nur an irgendein Mitleid der Zuschauer zu appellieren (was zweifellos die leichtere Strategie gewesen wäre).

Streep erspürt ihre Rollen

Im Kontrast hierzu gestaltet Meryl Streep dann die Rückblenden: kraftvoll, frech, zupackend. Und wann genau sie in diesem Spiel als Figur die Grenze unserer Sympathie überschreitet, wann exakt aus der anfangs durchaus mutigen, authentischen Nachwuchspolitikerin die Maske der Unbelehrbaren, auch Unverbesserlichen wird – der Zuschauer, ob nun britisch oder deutsch, wird darüber unsicher bleiben, weil er von Streep bezwingend zum bitteren Ende geführt wird.

Mit der „Eisernen Lady“ wagt Meryl Streep im Übrigen einen großen Sprung: Sie spielt darin über weite Strecken eine Mittachtzigerin – und das so gut, dass der Zuschauer nicht eine Sekunde darüber nachdenkt, wie viel künstliche Falten die Maske dafür über ihr Gesicht drapieren musste. Die Maske hilft einer Schauspielerin, aber eine gute Schauspielerin ist eben nicht auf sie angewiesen. Im Film muss man Alter nicht unbedingt sehen, sondern spüren. Meryl Streep erspielt ihre Rollen, indem sie diese erspürt. Wie gesagt, phänomenal. Und allemal einen Berlinale-Bären wert.