Zunächst sah es so aus, als hätte der Richter, der wegen seiner Arbeitsweise ermahnt worden war, in Karlsruhe Erfolg erreicht. Nun spricht er selbst von einem verfassungswidrigen Urteil des BGH und die Neue Richtervereinigung von einer verpassten Chance.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart/Karlsruhe - Das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) in der vergangenen Woche war offenbar doch kein wirklicher Erfolg für den Freiburger Richter, der sich gegen eine Ermahnung durch seine Gerichtspräsidentin wehrt, weil er zu wenig Fälle erledige. Dem ersten öffentlichen Eindruck, in dem von einem Etappensieg für ihn die Rede war, tritt der Richter Thomas Schulte-Kellinghaus jetzt selbst entgegen. Obwohl der BGH das Urteil des Dienstgerichtshofs in Stuttgart in einem Fall aufgehoben hatte, scheine ihm diese Wertung „nicht zutreffend zu sein“. Auch die Neue Richtervereinigung (NRV) spricht von einer „verpassten Chance“, die richterliche Unabhängigkeit gegen den Erledigungsdruck zu verteidigen. Das Verfahren, das für die Justiz von „immenser Bedeutung“ sei, sei aber nach wie vor offen.

 

Nach mehrstündiger Verhandlung hatten die Karlsruher Richter am vorigen Donnerstag entschieden, ein Vorgesetzter dürfe einen Richter im Zuge der Dienstaufsicht „zu einer ordnungsgemäßen, unverzögerten Erledigung der Amtsgeschäfte ermahnen“. Dies hatte die frühere Präsidentin des Oberlandesgerichts Karlsruhe im Fall von Schulte-Kellinghaus getan, weil er nur etwa zwei Drittel so viel Fälle wie der Durchschnitt seiner Kollegen erledige. Der 63-Jährige gilt jedoch keineswegs als faul, sondern als besonders gründlich.

Die richterliche Unabhängigkeit sieht der BGH aber beeinträchtigt, wenn dem Richter ein Pensum abverlangt wird, das sich „allgemein, also auch von anderen Richtern, sachgerecht nicht mehr bewältigen lässt“. Diese Frage habe die Vorinstanz nicht ausreichend untersucht, weshalb die Sache zurück nach Stuttgart verwiesen wurde; Durchschnittszahlen könnten dafür „nur ein Anhaltspunkt“ sein.

Richtervereinigung bedauert verpasste Chance

Schulte-Kellinghaus wehrt sich jedoch nicht gegen die Art und Weise der Ermittlung des Durchschnitts, sondern dagegen, dass die Tätigkeit von Richtern überhaupt an Zahlenvorgaben gemessen wird; darin sieht er einen Verstoß gegen die grundgesetzlich garantierte Unabhängigkeit. Die BGH-Entscheidung hält er daher für verfassungswidrig. Der angekündigte Weg zum Bundesverfassungsgericht werde ihm mit dem Urteil jedoch verbaut, zumindest aber erschwert. Dies sei den Richtern auch bewusst gewesen.

Auch die Neue Richtervereinigung zeigte sich mit dem Urteil unzufrieden. Der Bundesgerichtshof habe die einmalige Chance versäumt, dem von der Justizverwaltung geforderten „Recht nach Kassenlage“ einen Riegel vorzuschieben, rügte der NRV-Bundesvorstand. Unverständlich sei, dass die von Schulte-Kellinghaus aufgeworfenen Fragen in der Verhandlung nicht in einem Rechtsgespräch erörtert worden seien. Ob der Richter wirklich gerügt werden durfte, müsse nun der Dienstgerichtshof beim Oberlandesgericht in Stuttgart entscheiden. Wie viel Spielraum dieser habe, werde sich erst aus den schriftlichen Ausführungen des BGH ergeben.

Gründlich und schnell zugleich – geht das?

In der Verhandlung hatte Schulte-Kellinghaus argumentiert, mit der Ermahnung werde ihm eine „Rechtsprechung light“ abverlangt. Seine Rechtsanwendung solle sich nach der Kassenlage und dem zur Verfügung stehenden Personal richten. Die Zahl der erledigten Fälle sei kein geeigneter Maßstab, um die Leistung von Richtern zu messen; faule Richter hätten keine Probleme, die Vorgaben zu erfüllen. Wenn Richter behaupteten, der Erledigungsdruck habe keinen Einfluss auf ihre Arbeit, sei das eine „Lebenslüge“. Die Bürger hätten einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, bestätigte Schulte-Kellinghaus. Diesen müsse jedoch der Staat insgesamt gewährleisten und nicht der einzelne Richter. Der Vertreter des Landes hatte vor dem BGH argumentiert, gründlich oder schnell müsse kein Gegensatz sein. Der Großteil der Richter schaffe es, in angemessener Zeit fundierte Entscheidungen zu treffen.