Siegmund Schaich aus Waiblingen sammelt Bierkrüge, die Reservisten sich zum Ende ihres Militärdienstes leisteten. Jedes der kunstvoll gestalteten Gefäße ist ein Unikat.

Waiblöingen - Reservist Eberhardt hat wohl einen ganzen Monatssold, zwischen sechs und acht Mark, für dieses Prachtstück von einem Bierkrug hingelegt. Die bunte Abbildung auf dem blaugrauen Steinzeug zeigt eine exotische Szene: Vor einer Lehmhütte sitzt eine ältere afrikanische Frau. Ein deutscher Soldat ist, von ihr unbemerkt, auf eine Palme geklettert. Er küsst die Tochter des Hauses, die ihren Kopf aus einem Fenster der Lehmbehausung streckt. Sah so das typische Soldatenleben in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika zu Anfang des 20. Jahrhunderts aus?

 

Mitnichten. Doch schließlich war es auch nicht Sinn und Zweck der Reservisten-Bierkrüge, die traurige Realität abzubilden – etwa den Völkermord an afrikanischen Einwohnern kurz nach der Jahrhundertwende oder den Tod von deutschen und südafrikanischen Soldaten beim Kampf um die Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Nein, die Trinkgefäße sollten eine schöne Erinnerung an die glorreiche Militärzeit sein. So ist auf jedem feinsäuberlich aufgelistet, wer sein Besitzer war, von wann bis wann er in welchem Regiment diente und wie seine Kameraden hießen.

Die Hochzeit war von 1900 bis 1914

Von 1870 bis 1918 waren solche Bierkrüge bei deutschen Soldaten sehr beliebt. „Die Hochzeit aber war etwa von 1900 bis 1914“, sagt Siegmund Schaich. Der in Waiblingen lebende Sammler hat eine ganze Reihe solcher Bierkrüge mit militärischem Hintergrund zusammengetragen. „Mit Militarismus hat das nichts zu tun“, sagt Siegmund Schaich, „diese Reservisten-Bierkrüge sind für mich kleine Kunstwerke und Zeitzeugen der Kaiserzeit.“

Tatsächlich wird beim Betrachten der meist aus Steinzeug, bisweilen aber auch aus weißem Porzellan angefertigten Krüge so manches Kapitel der deutschen Geschichte lebendig. Ein Modell erinnert beispielsweise an die deutsche Kolonie Tsingtau in China, ein anderes an die Elitesoldaten des laut Aufschrift „edelsten Regiments der Christenheit“, dem in Berlin stationierten Garderegiment zu Fuß.

„Jeder Krug ist ein Unikat, weil jeder speziell für seinen Besitzer bemalt wurde“, betont Siegmund Schaich. Immer im Frühjahr, ein halbes Jahr vor dem Ende der Dienstzeit, seien Händler in den Kasernen aufgetaucht. Im Gepäck hatten sie Rohlinge der verfügbaren Modelle, außerdem Bildvorlagen, die Szenen aus dem Soldatenleben zeigten: einen Matrosen, der eine exotische Schönheit im Arm hält, Mitglieder einer Maschinengewehr-Kompanie mit ihren Waffen oder einen Soldaten, der Vater und Mutter Lebewohl sagt.

Krüge für Militärbäcker, Matrosen, Luftschiffer

Die Abbildungen waren stets auf die späteren Besitzer zugeschnitten, ob der nun bei der Marine oder als Luftschiffer im Einsatz war, seinen Dienst als Militärhufschmied oder Militärbäcker ableistete. Friedensbotschaften sind naturgemäß nicht zu finden auf den kunstvoll bemalten Krügen, stattdessen markige Sprüche wie „Dauerfeuer ist unser Gruß“.

Die Mehrzahl der Krüge fasst einen halben Liter, die Modelle für Marinesoldaten meist einen ganzen. Damit das Bier nicht schal wird, haben die Krüge einen Deckel aus Zinn, der häufig mit aufwendig gestalteten Figuren bestückt ist. Da sitzt ein Soldat hoch zu Ross, thronen obenauf ein Neptun oder eine Kaiserkrone. Letztere dreht Siegmund Schaich vorsichtig, bis sie sich vom Krugdeckel löst und ein geschliffenes Glasprisma zum Vorschein kommt.

Darunter verbirgt sich ein Diorama, das eine Szene mit zwei winzigen Soldaten und einem Boot zeigt. „Solche Deckel, die man abschrauben kann, sind bei Sammlern sehr begehrt“, sagt Schaich. Auch die Drücker, mit denen der Deckel angehoben wird, sind oft echte Hingucker: Adler mit mächtigen Schwingen, Rehböcke oder einen bayerischen Löwen kann man entdecken. „Schauen Sie mal da durch“, sagt Schaich und deutet auf das stecknadelkopfgroße, weiße Glasauge des Adlers. Wer einen Blick riskiert, wird belohnt und erblickt das winzige Bildnis eines Mädchens, das auf einem Diwan liegt.

Mikrofotografien unter der Stanhope-Lupe

„Das ist eine Stanhope-Lupe“, erklärt Schaich und erzählt, dass er das selbst erst entdeckt habe, als der Krug schon einige Monate in seinem Regal stand. Manchmal offenbart der Blick ins Glasauge, das in Wirklichkeit eine optische Vorrichtung ist, mit der man Mikrofotografien betrachten kann, auch ein Porträt des Kaisers oder eine militärische Szene. Doch die Stanhope-Lupen sind nicht das einzige Detail, das sich nicht auf den ersten Blick offenbart. „Im Boden der meisten Krüge steckt eine Lithophanie, eine Reliefdarstellung aus Porzellan“, sagt Siegmund Schaich. Wenn der Trinkende seinen Bierkrug bis auf den letzten Schluck leert, erkennt er im Boden ein Bild, zum Beispiel das eines Liebespaars in trauter Zweisamkeit.

Seinen ersten Krug hat Siegmund Schaich Anfang der 1970er Jahre im Tausch erstanden. Inzwischen weiß er, dass es Gleichgesinnte auf der ganzen Welt gibt, vor allem aber in Amerika. Dort hat er schon eine Reihe von Sammlungen bewundert. Obendrein hat er ein reich bebildertes Buch veröffentlicht, das, so sagt der 73-Jährige, als „eine Bibel für Sammler“ gelte. Für ihre Objekte der Begierde zahlen Liebhaber je nach Zustand und Seltenheitswert zwischen 150 und 20 000 Euro. Stattliche Preise. Und dennoch vergleichsweise günstig, wenn man den Aufwand bedenkt, mit dem die Krüge hergestellt wurden: „Heutzutage wäre das unbezahlbar.“

Erinnerung an die Zeit beim Militär

Nachschlagewerk
Sein Buch über Reservisten-Bierkrüge hat Siegmund Schaich im Eigenverlag herausgegeben. Es listet auf 730 Seiten rund 670 Krüge auf. Die Stücke sind stets von drei Seiten abgelichtet und werden in Texten auf Deutsch und Englisch erläutert. Der Band kostet 59 Euro plus acht Euro Versandkosten und kann geordert werden per E-Mail an info@reservistenkrug-buch.de oder unter Telefon 01 72 / 7 34 78 02.

Mikrofilm
Der französische Fotograf und Chemiker René Dagron hat sich im Jahr 1859 das Patent für den Mikrofilm gesichert. Um die winzigen Fotos erkennbar zu machen, nutzte er die Stanhope-Lupe: ein wenige Millimeter langes Glasstäbchen mit einem konvex geschliffenen und einem flachen Ende. Auf letzterem wurde das Minibild platziert, das durch den Blick durchs Stäbchen vergrößert wird.