Die Kanzlerin beendet ihren „Bürgerdialog“. Viele Ideen hat sie mit auf ihren weiteren Weg bekommen – beim Regieren wird es ihr aber nicht helfen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Angela Merkel braucht keine Piraten. Sie hat ihre eigene Form von direkter Demokratie im Internetzeitalter entwickelt. „Bürgerdialog“ nennt sich das. Anfang Februar hat die Kanzlerin ihr Volk eingeladen, der Regierung Wünsche und Begehren zu unterbreiten. Dreimal reiste sie höchstselbst in die Provinz, um sich dem Gedankenaustausch zu stellen.

 

Die Bilanz ist eher ernüchternd: Der nationale Kummerkasten im Netz quillt über von Weltverbesserungsvorschlägen, die für das praktische Regierungshandeln überwiegend einen begrenzten Nutzwert haben. Bei ihren persönlichen Audienzen in Erfurt, Heidelberg und Bielefeld wurde die Kanzlerin mit sehr alltäglichen Problemen behelligt, die sie aber nicht völlig überrascht haben dürften. Überraschend war allenfalls, dass die Schlagwörter der großen Politik den kleinen Mann kaum zu interessieren scheinen: Eurokrise? Energiewende? In den Bürgerdialogen kamen diese Themen allenfalls am Rande vor.

Das Bundespresseamt findet gleichwohl, Merkels Experiment sei geglückt. Binnen elf Wochen haben anderthalb Millionen Menschen Merkels Dialogforum im Internet angeklickt, knapp 20 000 jeden Tag. 11 000 Vorschläge und 70 000 Kommentare wurden hinterlegt. „Wir sehen das als einen großen Erfolg“, sagt der stellvertretende Regierungssprecher Georg Streiter. In einem Nachsatz lässt er allerdings erkennen, dass die Resonanz nicht vollauf den Erwartungen entspricht. „Politik im Internet“, so Streiter, „ist ja nicht so ein Renner wie abstürzende Flugzeuge.“

Im Netz hat sich jeder Luft gemacht

Einen Eindruck von der Gemütslage in deutschen Wohnzimmern konnte die Kanzlerin nur bei ihren realen Bürgerdialogen gewinnen. Im Netz haben sich offenbar eher jene Luft verschafft, die glauben, sonst nicht ausreichend zu Wort zu kommen. Wenn Merkel nach deren Vorgaben regieren würde, wäre Deutschland ein politischer Abenteuerspielplatz. Auf der Hitliste der virtuellen Bürgerwünsche steht ganz oben ein „Gesetz gegen die Leugnung des Völkermordes in Armenien“. Fast 150 000 der Netzbürger haben dafür ihr Votum abgegeben. Merkels Variante von „liquid democracy“ spülte zudem zwei weitere Anliegen nach oben, die der Kanzlerin eher peinlich sein dürften. Jeweils 140 000 Klicks befürworteten einen „offenen Dialog über den Islam“ à la Sarrazin sowie den legalen Verkauf von Cannabis. Ganze sieben Stimmen wurden unter dem Stichwort „gerechtere Verdienste“ verbucht.

Am 15. Mai wird im Rahmen des Bürgerdialogs noch eine Jugendkonferenz stattfinden. Ende August werden Experten der Kanzlerin einen Abschlussbericht mit Handlungsvorschlägen vorlegen. 120 Wissenschaftler haben das Projekt begleitet. Zunächst war geplant, die Urheber der bestbewerteten Vorschläge ins Kanzleramt einzuladen. Doch darauf wird die Hausherrin angesichts der erwähnten Auswahl an Themen wohl lieber verzichten.

// Merkels Demokratieforum im Netz unterwww.dialog-ueber-deutschland.de