Live hat die Band Billy Talent, voran ihr Sänger Ben Kowalewicz, ihre Songs meist durch Lautstärke erledigt. In der Schleyerhalle haben die Kanadier jetzt gezeigt, dass sie auch einen kultivierteren und melodiöseren Sound beherrschen.

Entscheider/Institutionen : Kai Holoch (hol)

Stuttgart - Es ist die Sensation des Abends: Ben Kowalewicz kann in Konzerten nicht nur kreischen. Er kann tatsächlich singen – und das richtig gut. 6000 Fans in der durch Vorhänge verkleinerten Schleyerhalle sind am Sonntagabend beim Konzert der kanadischen Rockband Billy Talent Zeugen dieser beachtlichen Entwicklung gewesen. In den vergangenen Jahren haben die deutschen Fans Kowalewicz auf der Bühne vor allem als wild zappelnde Furie erlebt, die selbst die filigransten Werke des Gitarristen Ian D’Sa zerbrüllt hat. Man hatte sich schon daran gewöhnt, dass Kowalewicz mit seinem emotionalen Overkill all das vernichtete, was den außergewöhnlichen Charme und die musikalische Klasse vieler Billy-Talent-Nummern auf CD ausmacht.

 

Doch nun das. Allein das Intro sagt schon viel über das neue Selbstverständnis der Kanadier aus. Zunächst läuft „Synchronicity“, ein Song, den The Police im Jahr 1983, also zu einem Zeitpunkt geschrieben hatte, als die meisten im Publikum noch gar nicht auf der Welt waren. Immer wieder tauchen später im Konzert rockige Aufwartungen von Billy Talent an die komplexe und vertrackte Rhythmik von The Police auf. Doch zunächst folgt mit „Lonely Road to Absolution“ das fast an melancholischen Mittelalterrock erinnernde Intro zum neuen Album. Aber selbst wenn Ian D’Sa dann seine Saiten traktiert, um kraftvoll die neue Single „Viking Death March“ zu intonieren,  widersteht Ben Kowalewicz der Versuchung, seinen Stimmbändern freien Lauf zu lassen.

Diese anfängliche Verwunderung wächst sich im Lauf des Abends zu einer gewissen Begeisterung aus. Nicht nur die neuen Songs, auch Material von früheren Werken wie „Rusted from the Rain“ oder „Saint Veronika“ dürfen live fast so klingen wie auf CD – und dabei so richtig rocken und rollen. Da spürt man erst, welch exzellent groovende Hintergrundarbeit der Bassist Jon Gallant und Aaron Solowoniuk am Schlagzeug leisten. Sogar „Surrender“ behält auf der Bühne seinen Charakter als Ballade. Den Höhepunkt erreicht der Abend aber bei der ersten Zugabe: Noch nie hat der originellste Song von Billy Talent, „Fallen Leaves“, im Konzert so melodisch klingen dürfen wie dieses Mal. Es ist schlicht ein Genuss.

Der Titelsong kommt leider nicht vor

Bei aller Begeisterung gibt es aber auch ein paar kleine Einschränkungen. Ziemlich unerklärlich ist es, wieso Billy Talent erstmals einem Album einen Namen gegeben hat, den gelungenen Titelsong aber im Konzert nicht spielt. Auch einige weitere Perlen des Albums bekommen keine Chance, ihren Glanz im Konzert zu entfalten – während vergleichsweise schwächere Nummern wie „Man alive!“ den Weg ins Programm finden.

Natürlich gibt es auch noch ein paar ältere Songs wie „Line & Sinker“, „River below“ oder Try Honesty“ vom Debütalbum, auf die langjährige Fans warten und bei denen Ben Kowalewicz nach wie vor an die Grenzen seiner Stimme geht. Doch in dem knapp anderthalbstündigen Konzert stören sie nicht. Billy Talent vollzieht den Abschied von seiner einstigen Punk-Attitüde eben in kleinen Schritten. Man schämt sich seiner Vergangenheit nicht, aber die Musiker haben erkannt, dass ihre wahren Stärken in anderen Klangwelten liegen.

Noch so ein Indiz, dass sich Billy Talent mit den eigenen Fähigkeiten arrangiert hat und die Musiker den Punk anderen überlassen, ist die Wahl des Vorprogramms. Es besitzt schon eine gewisse Größe, mit den Arkells und vor allem mit Anti-Flag zwei außergewöhnlich gute, charismatische und im Fall von Anti-Flag auch arrivierte Punk-Bands zu präsentieren, die demonstrieren dürfen, wie knallharter Punk im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhundert wirklich klingen muss. Davon ist Billy Talent meilenweit entfernt. Dafür sind die Kanadier in ihrem eigenen Klangkosmos unschlagbar.