Nachrichtenzentrale: Nadia Köhler (nl)


Kokon der Normalität


Anders als in Interviews kann Kampusch hier selbst die Schwerpunkte setzen, das beschreiben, was sie während der furchtbaren Zeit besonders beschäftigt hat. Und das war anfangs nicht so sehr die Angst vor der Brutalität ihres Peinigers als vielmehr das schmerzhafte Vermissen ihrer Eltern. Die Angst davor, von den ohnehin schon nie besonders liebevoll handelnden Eltern aufgegeben worden zu sein. Und diese Angst war es auch, die das kleine Mädchen auch immer stärker in die Arme ihres Entführers trieb. "Niemand in der Welt draußen würde glauben, dass ein Entführungsopfer alles daransetzt, um mit seinem Kidnapper ,Mensch ärgere Dich nicht' zu spielen. Doch (...) ich war allein, und es gab nur einen einzigen Menschen, der mich aus der beklemmenden Einsamkeit retten konnte: der, der mir diese Einsamkeit angetan hatte", schreibt Kampusch. Der Autorin ist es ein Anliegen, dieses Verhältnis zum "Täter", wie sie Priklopil nennt, differenziert darzustellen. Vom "Stockholm-Syndrom" sei immer gesprochen worden. Doch diesen Begriff empfindet Kampusch als verletzend - er mache sie zum zweiten Mal zum Opfer. Die Annäherung an den Täter sei keine Krankheit. Sich im Rahmen eines Verbrechens "einen Kokon der Normalität" zu schaffen, sei eine Strategie in einer auswegslosen Situation.

Wie beklemmend und verwirrend die Situation für das heranwachsende Kind gewesen sein muss, wird deutlich, wenn Kampusch schreibt, dass sie der Gefangenschaft damals auch Positives abgewinnen konnte. "Wenn ich mich dem Täter fügte, war ich erwünscht - zum ersten Mal seit langem." In ihrer Familie sei ihr stets die Rolle des ungeschickten kleinen Pummelchens zugedacht gewesen, unter Priklopils Machtregime habe sie paradoxerweise zum ersten Mal in ihrem Leben sie selbst sein können. Natascha Kampuschs Biografie ist frei von Wut. Die Österreicherin hadert nicht mit ihrem Schicksal. Es ist vielmehr die Biografie einer Frau, die sich zeit ihres Lebens nie wirklich frei gefühlt hat: als Kind aufgerieben zwischen den streitenden Eltern, als Heranwachsende fremdbestimmt von ihrem Entführer und als junge Frau erstickt vom öffentlichen Interesse an ihrem Schicksal. "3096 Tage" ist der sehr eloquente Aufruf Natascha Kampuschs, sie endlich freizulassen.