Grönlandhaie werden so alt wie kein anderes Wirbeltier: 400 Jahre und mehr sind normal. Und geschlechtsreif werden sie erst mit 150 Jahren.

Stuttgart - Gemächlich schwimmt der Grönlandhai am Grund des Nordatlantiks entlang. Pro Stunde kommt er im Durchschnitt gerade einmal 1220 Meter weit – und erreicht damit nur gut ein Drittel des Tempos eines gemütlichen Spaziergängers. Wenn es drauf ankommt, beschleunigt der manchmal mehr als sechs Meter lange Hai auf satte 2,6 Kilometer in der  Stunde Höchstgeschwindigkeit. In den Tiefen des Eismeers ticken die Uhren eben langsamer, selbst die als pfeilschnell bekannten Haie halten sich hier an ein ungeschriebenes Tempolimit. Dieser gemächliche Lebensstil aber scheint ein Patentrezept für ein hohes Alter zu sein. Julius Nielsen von der Universität von Kopenhagen und seine Kollegen berichten nun im Fachblatt „Science“ jedenfalls von einem Grönlandhai, der wohl satte 392 Jahre alt ist.

 

„Wahnsinn“, kommentiert Alexander Scheuerlein vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock dieses Alter, das für Wirbeltiere einen beeindruckenden Weltrekord bedeutet. Zwar hatte der Evolutionsbiologe, der die Lebensspanne von Tieren untersucht, schon lange den Verdacht, dass Grönlandhaie steinalt werden, nur fehlten die Beweise, weil sich die Tiere sehr schwer beobachten lassen – schließlich leben sie vor allem im Eismeer vor den kaum besiedelten Küsten von Kanada, Grönland und Spitzbergen.

Das Leben der Grönlandhaie ist weitgehend unbekannt

Weil diese Haie Wassertemperaturen um sechs Grad Celsius bevorzugen, tauchen sie an der Oberfläche ohnehin meist nur im Winter auf. Im Sommer finden sie so kühles Wasser eher in der Tiefe. Ein Tauchboot stöberte einen Grönlandhai daher auch schon einmal in 2200 Meter Tiefe auf. Meist leben die Haie aber in 200 bis 600 Meter Tiefe, also unterhalb der Zone, in der Berufstaucher unterwegs sind.

Mangels Beobachtung liegt auch der Lebensstil von Grönlandhaien ziemlich im Dunkeln. Ihr gemächliches Tempo deckten Forscher zum Beispiel erst auf, als sie vor Spitzbergen sechs gefangene Tiere mit Sendern versahen und wieder freiließen. Selbst im Spitzentempo sind die Haie allenfalls halb so schnell wie eine Robbe. Und doch fanden sich im Magen eines Grönlandhais die Überreste einer Robbe, ein anderes Tier hatte sogar den Kieferknochen eines jungen Eisbären geschluckt.

Wie fängt man im Zeitlupentempo die Beute?

Bis jetzt können die Forscher nur spekulieren, wie die Jäger im Zeitlupentempo solche viel schnellere Beutetiere erwischen. Robben schlafen zum Beispiel im Wasser, um so ihren Feinden, den Eisbären, aus dem Weg zu gehen. Eine schlafende Robbe kann auch der langsamste Hai packen. Vielleicht aber hatte er auch nur eine tote oder stark geschwächte Beute erwischt? Möglicherweise patrouillieren die Tiere am Grund des Eismeeres und suchen tote Tiere, die nach unten gesunken sind. Überreste von Fischen finden sich viel jedenfalls häufiger im Bauch von Grönlandhaien als Mahlzeiten aus Säugetieren.

Die Mägen der Zeitlupenjäger können Forscher nur dann unter die Lupe nehmen, wenn Fischer vor Grönland oder Spitzbergen ihren Fang aus der Tiefe des Nordatlantiks holen und dabei aus Versehen auch einen Grönlandhai erwischen. Diesen Beifang haben dann auch Julius Nielsen und seine Kollegen untersucht, um das Alter der Tiere zu bestimmen. Zwischen 2010 und 2013 bekamen die Forscher so 28 Grönlandhaie zu sehen, deren kleinster gerade einmal 81 Zentimeter lang war, während der größte 502 Zentimeter maß.

Augenlinse gibt neue Hinweise auf das Alter

Von diesen Tieren analysierten sie das Zentrum der Augenlinse, das schon vor der Geburt entsteht und dessen Proteine später auch nicht erneuert werden. Bestimmen die Forscher mit der Kohlenstoff-14-Methode das Alter dieses Linsenkerns, erfahren sie auch das Alter des gesamten Tieres. Anderes Gewebe dagegen wird immer wieder erneuert, Hinweise auf das Alter lassen sich dort also viel schwerer gewinnen.

Die beiden kleinsten Haie hatten auffallend viel Kohlenstoff-14 im Linsenkern. Ihre Geburt sollte daher in der Zeit nach den frühen 1960er Jahren liegen, als Atomwaffenversuche größere Mengen dieses radioaktiven Kohlenstoffs in die Atmosphäre schleuderten. In dem mit 220 Zentimeter Länge drittkleinsten Hai enthielt der Linsenkern dagegen nur einen geringen Überschuss an Kohlenstoff-14 aus den Atomwaffenversuchen. Dieses Tier dürfte bei seiner Untersuchung im Jahr 2012 also gerade 50 Jahre alt geworden sein.

Nachwuchs erst mit 150 Jahren

Alle größeren Grönlandhaie hatten in ihrem Linsenkern dagegen nur normale Kohlenstoff-14-Mengen, das durch kosmische Strahlung in der Atmosphäre laufend neu entsteht. Diese Tiere sollten also vor den 1960er Jahren geboren worden sein. So zeigte die Kohlenstoff-14-Uhr für einen 493 Zentimeter langen Grönlandhai ein Alter von 335 Jahren an, beim Rekordhai mit 502 Zentimetern waren es sogar 392 Jahre.

Aus einer anderen Untersuchung wissen die Forscher, dass Grönlandhai-Weibchen erst dann Nachwuchs bekommen, wenn sie länger als vier Meter sind. Da eines der gefangenen Tiere mit 392 Zentimetern wohl gerade an der Schwelle zur Geschlechtsreife stand und sein Alter mit 156 Jahren bestimmt wurde, lassen sich Grönlandhaie mit der Vermehrung offensichtlich mindestens eineinhalb Jahrhunderte Zeit. Auch das dürfte für Wirbeltiere derzeit Weltrekord sein.

Wie kann man so alt werden?

Weshalb aber leben solche Methusalems vor allem in den eisigen Gewässern an den Polen? Auch der bisherige Rekordhalter bei den Wirbeltieren, ein 211 Jahre alter Grönlandwal, in dessen Nackenspeck eine 120 Jahre alte Harpunenspitze steckte, wurde im Mai 2007 vor Alaska gefangen. Die polaren Meere sind kalt, und häufig läuft auch der Organismus der dort lebenden Tiere auf Sparflamme. Sie reifen also später – und altern langsamer. Um sich in diesem kalten Wasser warm zu halten, werden die Tiere dort oft besonders groß. Der Grund dafür: Das Volumen eines Tieres wächst viel schneller als seine Oberfläche, durch die es Wärme verliert. Der Wärmeverlust von einem Gramm Maus ist daher viel größer als bei einem Gramm Elefant.

Große Tiere haben zudem weniger Feinde, die ihnen bedrohlich werden könnten. „Ein kleineres Tier lebt also meist gefährlicher und sollte sich daher darauf konzentrieren, möglichst früh möglichst viele Nachkommen zu haben“, erklärt der Evolutionsbiologe Alexander Scheuerlein. „Ein sehr großes Tier sollte dagegen seine Ressourcen eher in ein langes Leben investieren“, fasst der Forscher zusammen. Afrikanische Elefanten bekommen daher nur alle paar Jahre ein Kalb, werden dafür aber auch 70 Jahre alt. Dies alles erklärt, weshalb im kalten Nordpolarmeer der auf Sparflamme lebende Grönlandhai zum Methusalem unter den Wirbeltieren wird.

Tierische Altersrekorde

Säugetiere
Mindestens 211 Jahre alt können Säugetiere werden. So alt war ein Grönlandwal, der 2007 vor Alaska gefangen wurde. Auch bei Elefanten ist ein Alter von 86 Jahren nachgewiesen. Die ältesten Menschen starben mit wenig mehr als 120 Jahren.

Reptilien
Die Galapagos-Riesenschildkröte Harriet muss um 1830 auf der Insel Santa Cruz geschlüpft sein und starb 2006 in einem australischen Zoo an Herzversagen. Die Aldabra-Riesenschildkröte Adwaita soll im Zoo von Kalkutta sogar 250 Jahre alt geworden sein. Ihr Alter ist aber nicht zuverlässig dokumentiert – sie könnte auch „nur“ 150 Jahre alt gewesen sein.

Vögel
Auch Papageien wie der Gelbbrust-Ara können mit bis zu 104 Jahren ebenfalls steinalt werden.

Kleintiere
Brandtfledermäuse wiegen zwar nur fünf bis sechs Gramm. Und doch können diese Winzlinge ein Alter von bis zu 42 Jahren erreichen.

Insekten
Schwarze Wegameisen sind zwar nur einen Zentimeter lang – ihre Königin wird aber bis zu 30 Jahre alt.