Das Stuttgarter Ballett erlaubt seinem Publikum einen spannenden „Blick hinter die Kulissen“: Der Hauschoreograf Demis Volpi arbeitet im Kammertheater an seiner Choreografie „Aftermath“.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Viertel nach Acht, Halbzeit. „Wieviel haben wir bis jetzt geschafft?“, fragt Demis Volpi seinen Kollegen am Musikpult. Eine dreiviertel Stunde ist vorbei, 45 hoch konzentrierte Minuten, für den Hauschoreografen des Stuttgarter Balletts, für seinen Solisten Damiano Pettenella, der ihm in dieser öffentlichen Probe in der Reihe „Blick hinter die Kulissen“ als Ballettmeister assistiert. 45 harte Minuten vor allem aber für die Erste Solistin Hyo-Jung Kang, die am Mittwochabend im Kammertheater als einzige körperliche Schwerstarbeit leistet. Längst ist ihr nackter Rücken von einem Schweißfilm überzogen; schwarze Haarsträhnen kleben an ihren Schläfen. „Zwanzig Sekunden“, lautet die Antwort des Co-Repetitors Alastair Bannaman.

 

45 Minuten Ballettprobe für zwanzig Sekunden. Zwanzig magere Sekunden von knapp einer halben Stunde atemberaubender Körperästhetik in dem Stück „Aftermath“, mit dem Demis Volpi und seine Tänzer im April zur Premiere des Ballettabends „Fahrende Gesellen“ beitragen wollen. Er habe für seine Choreografie eine Komposition bei dem New Yorker Komponisten Michael Gordon in Auftrag gegeben, hat Volpi zu Beginn des Abends erklärt, nachdem er in schwarzen, auf der Hüfte sitzenden Jeans und schwarzen Sneakers mit neongelben Sohlen vors Publikum getreten war, nicht ohne seine Schuhe gewitzt zu kommentieren: „sehr gemütlich, ich kann damit sogar Spitze tanzen, die sind gerade im Trend bei uns“. Was das Publikum danach zu sehen bekommt, ist die faszinierende Arbeit an einem Solo für Hyo-Jung, die Volpi gerade choreografiert. Das bisher erarbeitete Material sei noch „sehr roh“, jetzt geht es ans Ausarbeiten und Fortschreiben.

Volpi knüpft ohne Umschweife an die Nachmittagsprobe an: „Zeig mir die letzte Position“, fordert er Hyo auf. Er sagt es auf Englisch, die Arbeitssprache in der international besetzten Kompanie. Ohne zu zögern übersetzt die Tänzerin Volpis verbale Anweisungen in ihr ureigenes Körper-Idiom. Die Ballerina, in schwarzen Leggings und spitzendurchsetztem rückenfreiem Top, scheint intuitiv zu begreifen, was er will – als ob sie den Film, der gerade vor dem inneren Auge ihres Choreografen abläuft, ebenfalls kenne. Wieder und wieder führt sie, zum Teil auf Spitzen, die komplexen Bewegungsabläufe aus, in die jedes Glied ihres Körpers, jede Muskelfaser, jede Sehne involviert ist; feilt und präzisiert, solange, bis der Endzwanziger zufrieden ist: „Very good! I like it!“. Der Hauch eines Lächelns huscht über Hyos blasses Gesicht.

Bewegung in der uniformen Tonlandschaft

Und jetzt ein Durchgang mit Musik: dynamisch vorwärtstreibende Synthesizer-Klänge setzen ein. Die gebürtige Südkoreanerin geht in die Ausgangsposition – und fügt, mit Grazie und Verve zugleich, die einzelnen, unverbunden einstudierten Bruchstücke zu einem fugenlosen, geschmeidigen Ganzen zusammen. Die Musik, die den Raum erfüllt, ist eine mit Hilfe des Computers simulierte Version der Auftragskomposition, bei der Uraufführung im April wird freilich das Orchester spielen. Die Tänzer und ihr Choreograf strukturieren das Musikstück mit Hilfe von Schlüsselstellen, denen sie Namen geben, „Isidora Numero One“ lautet eine, eine andere heißt „James“, zu Ehren des Musikdirektors James Tuggle, wie Volpi erläutert.

Trotzdem ist es nicht einfach, in der uniformen Tonlandschaft die markierten Punkte aufzufinden, „she got a bit lost“, kommentiert der Choreograf einen Fehlstart, also ein neuer Versuch. Die Drei arbeiten unaufgeregt, hoch konzentriert – und leidenschaftlich; Hyo bleibt die meiste Zeit stumm, saugt Volpis Informationen auf, schickt ihren Körper schon im Geiste auf die Reise, noch bevor der Choreograf ausgeredet hat. Ballettmeister Damiano denkt mit, zählt den Achter-Rhythmus ein, hilft über knifflige Stellen hinweg. Und Demis Volpi weiß genau, was er will, lässt nicht locker, ohne jemals verbissen zu wirken. Auch wenn seine Kollegin zur richtigen Musik zur richtigen Zeit die richtigen Schritte mache, heiße das längst nicht, dass er mit allem zufrieden sei, macht er seinen Anspruch klar.

„Ich suche immer wieder nach etwas, das ein bisschen anders ist“ – an der Stelle, die sie „James“ nennen, kann er seinen Drang zur Innovation gut illustrieren: Hyo soll in die Höhe springen, aber gleichzeitig nach unten streben. Sie springt einmal, zweimal, dreimal – dann ist das „flüssige Gefühl“, das sich der gebürtige Argentinier vorgestellt hat, da. Der Körper seiner Tänzerin, ihre individuelle Bewegungsqualität, dient ihm als Rohling, den er bearbeitet – später wird er ihn mit dem Material eines Bildhauers vergleichen.

Der Zuschauer darf den nächsten Schritt bestimmen

Ja, der junge Mann mit dem vollen, dunklen Haarschopf versteht es, anschaulich zu erklären, das Publikum mitzunehmen – und ab und an auch zu erheitern, etwa, als er eine schwierige Bewegungskombination von Hyo einfordert, sie selbst vorführen will – und daran scheitert. Ein anderes Mal schlägt er zwei Versionen vor, linkes Bein nach links oder linkes Bein nach rechts, Hyo tanzt beide, die Zuschauer dürfen entscheiden, welche ihnen besser gefällt. Nach gut einer Stunde unterlaufen der Tänzerin winzige Unkonzentriertheiten; ihr Choreograf reagiert sofort darauf und lädt das Publikum ein, Fragen zu stellen.

Wie gelingt es, die abstrakte Choreografie ohne stützendes Handlungsgerüst zu memorieren? „Ich lerne sie erst mit dem Kopf, dann tanze ich sie immer und immer wieder, solange, bis mein Körper sich erinnert“, antwortet Hyo. Die Musik dient als Trigger, der Körper spult die Bewegungen aus sich heraus in der richtigen Abfolge ab. Und natürlich haben die jungen Tanz-Cracks längst die moderne Kommunikationstechnologie für ihre Zwecke entdeckt. Volpi: „Unser I-Phones sind ein tolles Archiv“, Probenaufnahmen lassen sich digital speichern und schnell für alle Beteiligten zugänglich machen.

Am 17. April ist die Uraufführung. Es ist noch viel Arbeit: sechs bis acht Wochen Proben für rund zwanzig Minuten perfekte Tanzkunst sind angesetzt. Mitleid? Mitnichten. Es ist ihr Job. Und sie haben enormen Spaß dabei.

Termine
Kammertheater, 15. und 16. Februar, je zwei Proben. Restkarten gibt es an der Abendkasse.