Der Sänger und Songwriter Bob Dylan tourt wieder durch Deutschland. Der Meister im Hakenschlagen entwischt seinen Fährtenlesern heute noch eleganter als in den 1960ern – vor allem live: Seine Songs erneuert er manchmal von Nacht zu Nacht.

Stuttgart - Es ist wieder Rätselzeit. Der klein gewachsene Mann mit der Trümmerstimme, der seit fünfzig Jahren als das größte Orakel der Popgeschichte gilt, ist unterwegs. Vor einer Woche, beim Auftakt seiner Europatournee in Oslo, hievte der US-amerikanische Meistersongwriter Bob Dylan den Dieb, der in seiner Hymne „All along the Watchtower“ dem Narren die Welt erklärt, stimmlich plötzlich himmelwärts, während seine Band bedrohlich grollte: Gestern startete Dylans Deutschlandtournee, und dann kann man auch hierzulande anhand derartiger Kunstkniffe wieder Hinweise und Anleitungen suchen in der Performance eines genialen Künstlers, der schon in den Sechzigern eindeutig postulierte: „Don’t follow Leaders, watch your Parking Meters!“

 

Aber natürlich wird trotzdem gefolgt, zumal, wenn gänzlich Unerhörtes geschieht, wie etwa in Oslo. Da ordnete Dylan, was er sonst nie tut, während seines Konzerts plötzlich eine zehnminütige Pause an, und die weltweite Fangemeinde rätselte per SMS und Internet, weshalb. Der Tenor lautete: „Wir werden es nie wissen.“ Denn der ewige Literaturnobelpreiskandidat aus Minnesota spricht nicht viel. Er sagt alles in seinen Liedern.

Mit 72 Jahren ist er präsenter denn je

Zuletzt vor ein paar Wochen hat Columbia, Dylans Plattenfirma, ein Konvolut von 35 Songs, die Dylan zwischen 1969 und 1971 eher so zum Spaß aufgenommen und dann aussortiert hatte, auf zwei CDs gepresst und unter dem anspielungsreichen Titel „Another Self Portrait“ veröffentlicht. Sehr zur Freude der Fans. Denn „Another Self Portrait“, eine lustvolle Sammlung von Überbleibseln, die Dylan anno 1970 lieber nicht auf sein freigiebig orchestriertes Doppelalbum mit Coverversionen namens „Self Portrait“ pressen wollte, zeigt, dass das Original vor 43 Jahren nicht annähernd so obskur war, wie mancher dachte: Bob Dylan hatte, als die sechziger in die siebziger Jahre kippten, einfach Lust, vor sich hin zu musizieren und ansonsten in Ruhe gelassen zu werden. Da hatte er bereits eine Weltkarriere und einen schweren Motorradunfall hinter sich, und die bürgerrechtsbewegten Massen in Amerika riefen nach dem Anführer, der Dylan nie sein wollte: „Ich hatte wenig gemeinsam mit ihr und wusste noch weitaus weniger über eine Generation, deren Stimme ich angeblich sein sollte“, schrieb er später in seiner Autobiografie „Chronicles“.Jetzt tourt er, 72-jährig und präsenter denn je, in Deutschland, und das große Fährtenlesen geht weiter: Im vergangenen Jahr reiste Dylan, der auf der Bühne seit Ewigkeiten lustvoll die Tasten eines alten Keyboards drückt, plötzlich mit einem Konzertflügel. Und er legte den Hut ab, von dem manche dachten, er sei angewachsen. Dylan verändert seine Songs allabendlich – auch beim Auftakt seiner Deutschlandtour gestern in Hannover. Er ist ein leidenschaftlicher Übermaler seiner eigenen Kunst, der seine Lieder zerfetzt, zermörsert und neu zusammensetzt. Mit Betonungen und Tonhöhen jongliert er wie Zirkusartisten mit Feuerkeulen.

Seit Ende der achtziger Jahre ist er ständig auf Konzertreise

Was hat es zu bedeuten, wenn Dylan im Song „It’s alright, Ma (I’m only bleeding)“ auf einmal die Zeile „Propaganda, aaaaall is phoney“ förmlich erbricht, wo er doch üblicherweise das Wort „phoney“ (falsch) wütend akzentuiert? Und was hat es mit den um eine Oktave höher gezurrten, mal geflöteten, mal gezwitscherten Zeilenenden auf sich, die sich ein Mann scheinbar selber schenkt, dessen Singstimme ansonsten zwischen Näseln, Röcheln und Fauchen changiert und in den intensivsten Augenblicken klingt wie eine Sprengung im Steinbruch?

Man wird von der „Never Ending Tour“ schreiben, weil Dylan seit Ende der achtziger Jahre eigentlich ständig auf Konzertreise ist, die er manchmal für ein paar Monate unterbricht, um seine Enkel vom Kindergarten abzuholen. In US-Zeitungen steht dann zuweilen, dass jemand die Polizei gerufen hat, wegen eines seltsamen alten Kerls, der aus seiner Umgebung herauszufallen scheint. Die Unterwäschemarke Victoria’s Secret machte sich vor ein paar Jahren diese Surrealität zunutze, die Dylan anhaftet, seit er sich in den frühen Sechzigern anschickte, die Welt mit gesungener Dringlichkeit aus den Angeln zu heben: Sie ließ Dylan mit dem Model Adriana Lima gemeinsam in einem vergnüglichen Werbespot auftreten. Erst wirft er seinen Hut, dann setzt sie ihn auf. Viele murrten: „Ausverkauf!“

Die Werbung für Damenunterwäsche als milde Ironie

Aber in Wirklichkeit war die Reklame milde Ironie, weil Dylan ja schon ein halbes Jahrhundert zuvor in einem Interview angekündigt hatte, er werde mal Geld mit Werbung für Damenunterwäsche verdienen. Und auch die „Never Ending Tour“ ist kein Unternehmen für die Ewigkeit: „Sie wird zweifellos enden“, sagte Dylan 2001 während einer seltenen Pressekonferenz: „Das, was uns alle miteinander verknüpft, dieses grundlegende Merkmal von uns allen, ist Sterblichkeit.“

„Death is not the End“, sang der Musiker Ende der achtziger Jahre, als es ihm schlecht ging, künstlerisch wie privat, als seine Konzerte anstrengende Prüfungen für die Fans waren und es vorkommen konnte, dass er sein Keyboard nur ein paar Takte lang benutzte, falsch spielte und es dann angewidert wegstieß. Aber im Rückblick betrachtet war auch diese Phase nur eine der vielen Häutungen, die Bob Dylan seit Beginn seiner Karriere zelebriert. Er schlug von Anfang an virtuos Haken. Er schüttelte die Fährtenleser regelmäßig ab.Kaum, dass Bob Dylan 1964 mit seinem Protestalbum „The Times they are a-changin’“ die Hymnen einer friedensbewegten Generation abgeliefert hatte, wandte er sich vom explizit Politischen ab und verkündete noch im selben Jahr auf seiner nächsten Platte, dass er nun jünger sei als zuvor. Die Folkfans brüskierte er, als er 1965 die E-Gitarre cool fand und sie auf dem Newport Folk Festival der Wanderklampfe vorzog. Es folgte eine manisch intensive Rockkarriere mit schwarzer Ray-Ban-Sonnenbrille, einem Motorradunfall, der totalen Isolation und plötzlich lieblichen Countryplatten.

Zuerst wandte er sich Jesus zu, dann dem Alkohol

Als viele Dylan bereits abgeschrieben hatten, erlebte er Mitte der siebziger Jahre seine bis dahin stärkste Phase und nahm Platten auf, die in surrealer Schönheit von echtem Leid erzählten. Sara, seine Frau, verließ ihn gerade. Er sang auf seinem Album „Desire“: „Du warst immer so nahe – und bist immer noch erreichbar.“ Bald darauf wandte er sich in grandiosen, aber für seine Fans verstörenden Gospel-Neuschöpfungen intensiv Jesus zu, wenig später dem Alkohol. 1997, als er gerade beinahe an einer Pilzinfektion gestorben war, meldete er sich mit dem kurz zuvor aufgenommenen, düster röchelnden Meisterwerk „Time out of Mind“ endlich mit seinem vollen musikalischen Vermögen zurück.

Dylan ist der Meister im Hakenschlagen

Aber selbst wenn man all das vergessen würde, wenn man die Häutungen außer Acht ließe, die das Orakel Dylan so inspirierend unzuverlässig hat werden lassen, wenn man nur die fünf Studioalben mit neuen Songs hört, die Bob Dylan in diesem Jahrtausend aufgenommen hat, ist man platt. Weil sie einzigartig sind. Weil niemand sonst eine derart triftige Verbindung aus Klängen und Worten herzustellen vermag. „The Future for me is already a Thing of the Past“, verkündete Dylan 2001. Fünf Jahre später sang er vom Weltenende, samt krankem Maultier und blindem Pferd. Und im vergangenen Jahr besang er auf seinem bisher letzten regulären Album „Tempest“ in einem 14-minütigen Walzer den Untergang der Titanic so plastisch, so unentrinnbar, als habe ihm ein Sterbender in seinen letzten Augenblicken die ganze schreckliche Wahrheit über alles und jeden zugeflüstert.

Aber Dylan, der Meister im Hakenschlagen, ist gut darin, der Düsternis Lebenslust abzutrotzen. Vor allem live. Manchmal lächelt er auf der Bühne, gelegentlich tänzelt er, oft nur mit einem Bein. Und ganz selten stellt er sich so feierlich hinter sein Mikrofon, dass man denkt, er würde gleich eine Ansprache halten. Aber dann verkneift er es sich doch. Denn dem Mann, der sich fünfzig Jahre lang freigespielt hat, ist inzwischen jede Botschaft suspekt.