Schüler von drei Böblinger Gymnasien haben das Schicksal von Berta Kettenmann aufgearbeitet. Die Nationalsozialisten hatten die junge behinderte Frau 1940 in Grafeneck vergast. Jetzt erinnert ein Stolperstein an sie.

Böblingen - Keiner der Zuschauer regt sich, als die Abiturienten weiße Rosen auf den frisch verlegten Stolperstein vor dem Haupteingang der Böblinger Stadtbibliothek niederlegen. Würde ein junger Posaunist die Szene nicht musikalisch begleiten, wäre es in diesem Moment mucksmäuschenstill auf dem Platz. Keiner, der bei der Stolperstein-Arbeitsgruppe mitgemacht habe, werde den Namen Berta Kettenmann je wieder vergessen, sagte Judith Grund vor dem Beginn der Veranstaltung am späten Donnerstagnachmittag. Der Betonquader mit dem Messingschild, der an die von den Nationalsozialisten ermordete behinderte Böblingerin erinnert, ist der zweite Stolperstein in der Stadt.

 

Bei der Verlegung des ersten für Rudolf Öhler im vergangenen Jahr begann die Geschichte des Nachfolge-Projekts. Zu der Aktion damals war auch die Geschichtslehrerin Susanne Söhn-Rudolph vom Otto-Hahn-Gymnasium gekommen. Bei der Gelegenheit habe sie eine Schülerin aus ihrem Geschichts-Neigungskurs gefragt: „Ich habe eine blinde Freundin, die wäre von den Nationalsozialisten auch abgeholt und umgebracht worden, oder?“

Schüler arbeiten Schicksal von Berta Kettenmann auf

Die Frage ließ Susanne Söhn-Rudolph nicht mehr los. Sie warb daraufhin in ihrem Geschichts-Neigungskurs, in dem auch Schüler des Lise-Meitner- und des Max-Planck-Gymnasiums waren, sich mit dem nächsten Stolperstein zu beschäftigen. Sechs Schülerinnen und Schüler gewann sie dafür. Namen von NS-Opfern konnte ihr die Kollegin nennen, die schon mit Schülern dem Leben und Tod von Rudolf Öhler nachgespürt hatte. „Diese Menschen hatten es nicht verdient, getötet zu werden“, sagt Judith Grund über ihre Motivation, bei dem Projekt mitzumachen. „Es ist gut, an sie zu erinnern.“

Die Schüler arbeiteten das Schicksal von Berta Kettenmann auf. Sie ist 1908 in Böblingen geboren worden und lebte bei ihrer Mutter in einem Haus, an dessen Stelle heute die Stadtbibliothek steht. Möglicherweise war eine Hirnhautentzündung die Ursache für Berta Kettenmanns Behinderung. Mit zehn Jahren konnte sie nur bis fünf zählen. Mit 16 Jahren hatte sie die geistigen Fähigkeiten eines fünfjährigen Kindes. Die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte Berta Kettenmann in der Heilanstalt Stetten im Rems-Murr-Kreis.

In dem Archiv dort und im Böblinger Stadtarchiv recherchierten die Oberstufenschüler, sie lasen unter anderem Briefe der Mutter von Berta Kettenmann, die auch als Erwachsene am liebsten Puppen mit sich herumtrug. Das brachte ihr den Namen Puppenmütterchen ein. Beim Lesen der Briefe „ist Berta ein bisschen lebendig geworden“, sagt Söhn-Rudolph. Die Archivrecherche habe ihm die behinderte Frau näher gebracht, sagt auch der Abiturient Sebastian Manstetten. „Schade, dass wir kein Foto von ihr gefunden haben“, bedauert seine Mitschülerin Nicole Prokoph.

In Grafeneck getötet

Beim Entziffern der handgeschriebenen Briefe half den Schülern Elisabeth Hülsmann, die mit ihrem Mann zu der Stolperstein-Arbeitsgemeinschaft gestoßen war. Unterstützt wurde die Gruppe auch vom Böblinger Stadtarchivar Christoph Florian und von Matthias Binder von der Diakonie Stetten. „Ohne deren Hilfe und ohne die Schüler hätte ich das Projekt nicht machen können und wollen“, sagt die Geschichtslehrerin Susanne Söhn-Rudolph.

Wie ein Puzzle haben sie Berta Kettenmanns Leben zusammengesetzt. Am 18. September 1940 wurde sie von Stetten nach Grafeneck „verlegt“. In der Behinderten-Einrichtung auf der Schwäbischen Alb haben die Nazis im Jahr 1940 mehr als 10 600 Menschen getötet. Auch Berta Kettenmann. An ihr Schicksal erinnert nun der Stolperstein vor der Stadtbücherei.