Der Oberbürgermeister Wolfgang Lützner wurde als Student von der Stasi ausspioniert. Jetzt gewährt er Einblick in seine Akte.

Böblingen - Wenn Wolfgang Lützner wissen möchte, was er eigentlich am 28. Juni 1985 oder am 4. April 1986 gemacht hat, muss er nur zu einem Packen Papier greifen: Hier ist der Tagesablauf minutiös protokolliert. So kann der heutige Böblinger Oberbürgermeister schwarz auf weiß nachlesen, dass er am 4. April 1986 um 9.40 Uhr das Café Dübner in Eisenach betreten hat, gemeinsam mit einem Busfahrer, der ihn und weitere Westdeutsche gefahren hatte. Um 10.32 Uhr begannen die beiden Männer ein Gespräch mit zwei weiteren Cafégästen. Diese verließen um 11.15 Uhr das Lokal, wenig später auch Lützner, um die Fahrt fortzusetzen. 60 Seiten solcher Banalitäten füllen Lützners persönliche Stasi-Akte.

 

Seit sieben Jahren weiß der CDU-Politiker, was er vorher nur ahnte: dass ihn der Staatssicherheitsdienst in den 80er Jahren bespitzelt hat. 2007 forderte er bei der Behörde für den Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen – allgemein als Gauck-Behörde bekannt – Akteneinsicht ein. Einige Wochen später erhielt Lützner ein dickes Päckchen aus Berlin. Jetzt hat er erstmals Einblick gewährt.

Als Mitarbeiter der Adenauer-Stiftung in der DDR

Doch wie kommt ein westdeutscher Kommunalpolitiker, der in Freiburg geboren wurde und im Hochschwarzwald aufwuchs, zu solchen Bespitzelungsprotokollen des DDR-Geheimdienstes? „Ich war während meiner Studienzeit von 1983 bis 1987 Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung und habe Besuchergruppen in die DDR begleitet“, erklärt der OB.

22 Mal war Lützner in der DDR, bevorzugt im Gebiet Erfurt/Eisenach. „Wir wohnten auf westdeutscher Seite direkt an der Grenze. Ein bis zwei Tage verbrachten wir regelmäßig in der DDR.“ Vor allem Schüler und Auszubildende führte der Jurastudent in die Lebensrealität des ostdeutschen Staates ein. „Mir war dabei wichtig, dass die jungen Leute ihre eigenen Erfahrungen machten.“ Sie sollten erleben wie es ist, vor einem geschlossenen Laden zu stehen, weil dort gerade Waren angeliefert wurden. Oder von einer Bedienung in einem Café angeschnauzt zu werden, als die Jugendlichen zwei Tische zusammenstellten. Deshalb schickte der Reiseleiter die Teilnehmer stets in kleinen Gruppen durch die Stadt. „So viele konnte die Stasi dann nicht überwachen.“

Dass er selbst unter ständiger Beobachtung von Mitarbeitern des Geheimdienstes stand, das war Lützner bewusst. Stets wurde ihm ein anderer ostdeutscher Begleiter an die Seite gestellt. „Die haben mich regelrecht ausgefragt.“ Mit politischen Statements hielt er sich deswegen zurück. So ist das auch in seiner Akte vermerkt. Stattdessen sammelten die Spitzel Banales. Diebische Freude machte es dem Studenten, die eine oder andere Falschinformation zu geben. So erzählte er, seine Frau arbeite bei einer Bank. In Wirklichkeit war sie Finanzbeamtin. Zwanzig Jahre später fand Lützner diese falsche Info in seiner Stasi-Akte.

Sindelfinger Schüler haben Stasi-Akten durchforstet

Lützner dürfte nicht der einzige Böblinger sein, den die Staatssicherheit ausspionierte. 1986 knüpfte die Stadt als eine der ersten westdeutschen Kommunen eine Partnerschaft mit einer DDR-Stadt, mit Sömmerda. Mehrere Male ist der damalige Oberbürgermeister Alexander Vogelgsang mit einer Delegation zu Besuch in Sömmerda gewesen. Und er ist sich ziemlich sicher: „Wir wurden beobachtet, und es wurden Berichte verfasst.“ Akteneinsicht aber hat er von der Gauck-Behörde nie gefordert. „Das, was wir besprochen haben, war ja in keiner Weise politisch brisant.“

Die Sindelfinger haben ihre Stasi-Einträge hingegen aufgearbeitet. Der pensionierte Geschichtslehrer Michael Kuckenburg, untersuchte vor drei Jahren mit seinen Schülern die Partnerschaftsgeschichte von Sindelfingen und Torgau. Dabei sichteten sie auch die dazugehörigen Stasiakten. Vermerkt ist beispielsweise das nächtliche Verschwinden der Sindelfinger Stadträtin Ingrid Balzer aus ihrem Hotel. Wohin Balzer ging – sie traf sich heimlich mit einem Pfarrer – das fanden die Spitzel nicht heraus. Über einige Delegationsmitglieder – darunter auch der Lehrer Kuckenburg – gibt es sogar persönliche Akten – allerdings sind sie nur schmal. „Meine hat sieben Seiten“, sagt Kuckenburg. Vermerkt sei darin: „Kuckenburg gibt sich gebildet und steht unserem System feindlich gegenüber.“

Was ist der Unterschied der Stasi zur aktuellen Bespitzelung durch die amerikanische NSA? „Die NSA arbeitet viel professioneller“, sagt Kuckenburg. Außerdem habe man in der DDR gezielt Menschen unter Druck gesetzt. „Daran sind Freundschaften und Ehen zerbrochen. So arbeitet eine Diktatur.“ Ähnlich sieht es Lützner: „Die NSA sammelt Daten. Die DDR hat systematisch Persönliches ausspioniert und Menschen bewusst Angst gemacht.“