Alfred Hudelmaier kümmert sich als ehrenamtlicher Archivar um die Geschichte des Orts. Jede freie Stunde sitzt er am Tisch mitten in einem voll gestellten Raum des Dorfhauses, an den Wänden reichen die Regale mit alten Chroniken bis an die Decke. Präzise und reflektiert schildert der 82-Jährige aus der zeitlichen Entfernung seine Erinnerungen. Oft ist Hudelmaier den 22. Februar 1945 noch einmal durchgegangen. „Psychisch ist das alles längst abgearbeitet“, sagt er. Aber eine Frage lässt ihn schon fast sein ganzes Leben nicht mehr los: „Ist da eine Person gewesen, die veranlasst hat, dass Mögglingen überlebt hat?“

 
Alfred Hudelmaier Foto: Gottfried Stoppel

Diese romantische Version schwirrt nicht nur durch Alfred Hudelmaiers Kopf, sie schwebt über dem Dorf. Was wäre das für eine Geschichte! Mögglingen, das Dorf zwischen Aalen und Schwäbisch Gmünd, aus Erbarmen verschont – obwohl es im Ort und ringsrum durchaus kriegsrelevantere Objekte gibt als ein Bauernhaus und leere Äcker. Die Verkehrswege waren ein strategisch wichtiges Ziel der Alliierten im Kampf gegen die Nazis, und mitten durch den Ort führt die Bahnlinie, parallel dazu verläuft die heutige Bundesstraße 29.

Es ist die Geschichte vom barmherzigen Kommandeur. Alfred Hudelmaier ist kein Träumer, aber er hängt an ihr.

Sehnsucht nach einer Antwort

Bis heute wird in Mögglingen über verschiedene Thesen diskutiert. Wenige Tage vor dem Ereignis quartierte sich in ein paar Privathäusern ein deutscher Truppenteil ein, der auf dem Rückzug war: Wollten die Alliierten das verschanzte Militär ausbomben? Oder vermuteten die Amerikaner hinter den Mauern der Miederwarenfabrik einen Rüstungsbetrieb? Die Zielmarkierung fällt unweit dieses Gebäudes, doch keine einzige Bombe trifft die Fabrik, die umringt ist von Wohnhäusern. Die mangelnde Präzision macht stutzig.

Und dann gibt es die These, die Paul Kuhn lange vertrat: Die schwer beladenen Bomber sind zu diesem Zeitpunkt schlicht gezwungen, irgendwo abzuladen, weil sie es noch zu ihrem Heimatflughafen zurückschaffen müssen. Aber warum lassen die Amerikaner die Bomben dann nicht zwischen Mögglingen und Essingen fallen, wo die Straße und die Bahngleise liegen? Wie plausibel ist es, dass es sich die Alliierten in diesen entscheidenden Wochen des Krieges leisten, die Bomben mit Absicht in leere Felder fallen zu lassen?

Noch heute beschäftigt das die Mögglinger. Besonders quälend ist die Ungewissheit für Alfred Hudelmaier, den pensionierten Rektor der Dorfschule.

Als zwölfjähriger Schüler ist er an jenem 22. Februar 1945 am Mittag mit seiner Jungenbande unterwegs. Die Gruppe ist auf einer Anhöhe außerhalb des Orts angekommen, als es plötzlich brummend laut wird. Aus Richtung Aalen ist der Himmel gesprenkelt von schweren Maschinen, Bomber, die von Osten gen Südwesten, in Richtung des Rosensteins, unterwegs sind. Die Kinder beobachten, wie ein Anführerflugzeug eine Zielmarkierung abwirft, im Volksmund wegen seiner Leuchtkraft „Christbaum“ genannt. „Wir hatten furchtbare Angst. Unsere Angehörigen waren ja im Dorf, und wir haben befürchtet, dass jetzt das Dorf bombardiert wird.“ Doch der „Christbaum“ fällt nicht in Richtung Bahngleise, Hauptstraße, Ortsmitte, sondern geht am südlichen Ortsrand nieder. „Wir hatten großes Glück, denn von Mögglingen wäre nichts mehr übrig geblieben, wenn die alle hereingekommen wären.“

Die romantische Version der Geschichte

Alfred Hudelmaier kümmert sich als ehrenamtlicher Archivar um die Geschichte des Orts. Jede freie Stunde sitzt er am Tisch mitten in einem voll gestellten Raum des Dorfhauses, an den Wänden reichen die Regale mit alten Chroniken bis an die Decke. Präzise und reflektiert schildert der 82-Jährige aus der zeitlichen Entfernung seine Erinnerungen. Oft ist Hudelmaier den 22. Februar 1945 noch einmal durchgegangen. „Psychisch ist das alles längst abgearbeitet“, sagt er. Aber eine Frage lässt ihn schon fast sein ganzes Leben nicht mehr los: „Ist da eine Person gewesen, die veranlasst hat, dass Mögglingen überlebt hat?“

Alfred Hudelmaier Foto: Gottfried Stoppel

Diese romantische Version schwirrt nicht nur durch Alfred Hudelmaiers Kopf, sie schwebt über dem Dorf. Was wäre das für eine Geschichte! Mögglingen, das Dorf zwischen Aalen und Schwäbisch Gmünd, aus Erbarmen verschont – obwohl es im Ort und ringsrum durchaus kriegsrelevantere Objekte gibt als ein Bauernhaus und leere Äcker. Die Verkehrswege waren ein strategisch wichtiges Ziel der Alliierten im Kampf gegen die Nazis, und mitten durch den Ort führt die Bahnlinie, parallel dazu verläuft die heutige Bundesstraße 29.

Es ist die Geschichte vom barmherzigen Kommandeur. Alfred Hudelmaier ist kein Träumer, aber er hängt an ihr.

Sehnsucht nach einer Antwort

Bis heute wird in Mögglingen über verschiedene Thesen diskutiert. Wenige Tage vor dem Ereignis quartierte sich in ein paar Privathäusern ein deutscher Truppenteil ein, der auf dem Rückzug war: Wollten die Alliierten das verschanzte Militär ausbomben? Oder vermuteten die Amerikaner hinter den Mauern der Miederwarenfabrik einen Rüstungsbetrieb? Die Zielmarkierung fällt unweit dieses Gebäudes, doch keine einzige Bombe trifft die Fabrik, die umringt ist von Wohnhäusern. Die mangelnde Präzision macht stutzig.

Und dann gibt es die These, die Paul Kuhn lange vertrat: Die schwer beladenen Bomber sind zu diesem Zeitpunkt schlicht gezwungen, irgendwo abzuladen, weil sie es noch zu ihrem Heimatflughafen zurückschaffen müssen. Aber warum lassen die Amerikaner die Bomben dann nicht zwischen Mögglingen und Essingen fallen, wo die Straße und die Bahngleise liegen? Wie plausibel ist es, dass es sich die Alliierten in diesen entscheidenden Wochen des Krieges leisten, die Bomben mit Absicht in leere Felder fallen zu lassen?

Paul Kuhn hat die Varianten mit Familienmitgliedern schon zigmal durchgekaut. „Wenn man das so anguckt, muss man sagen: Vielleicht gab es doch einen Kommandanten, der Skrupel hatte.“ Wer weiß, was im Kopf eines Einzelnen an diesem Tag vor sich gegangen ist? „Wäre schön, wenn wir den Mann kennen würden und seine Meinung hören könnten“, sagt Kuhn.

Die Sehnsucht nach einer Antwort bringt Alfred Hudelmaier und mich, die aus Mögglingen stammende Journalistin, vor etwa drei Jahren an den Besprechungstisch des Dorfarchivs. Gemeinsam wollen wir recherchieren. Ich kann gut Englisch, das weiß Hudelmaier von meinem Vater, zu diesem Zeitpunkt Bürgermeister in Mögglingen. Und mir gefällt die Geschichte vom ungelösten Geheimnis meines Heimatorts. Jetzt wollen wir direkt von den Amerikanern mehr über die Umstände erfahren: Was war an diesem Tag das Ziel der Alliierten?

Der Brief aus Maryland

Am Ende der Suche liegt ein Umschlag in meinem Briefkasten. Das Anschreiben datiert vom 28. März 2012, losgeschickt in College Park, Maryland. Die sieben Seiten stammen ursprünglich aus dem Büro des Generals, unter dessen Kommando die Mission am 22. Februar 1945 stand. Schon am Tag nach dem Angriff wurden sie fein säuberlich mit Schreibmaschine geschrieben. Auf fast jeder Seite mahnt am oberen Rand das Wort „Secret“. Es ist inzwischen entkräftet, offenbar von Hand durchgestrichen. Ein Stempel auf der ersten Seite und ein handschriftlich eingetragenes Datum verraten: am 29. Juni 1977 wurde die Geheimhaltung aufgehoben. Jetzt halten wir, die Menschen im ehemaligen Feindgebiet, die internen Unterlagen zur Kriegsführung in unseren Händen.

Als Alfred Hudelmaier und ich ins Mögglinger Dorfhaus einladen, um die Ergebnisse zu präsentieren, reichen die Stühle für die Besucher nicht aus. Mehr als 120 Menschen kommen in den Saal, um unseren Vortrag zu hören. Im Publikum sitzen etwa zehn Zeitzeugen und neben den Kindern der Kriegsgeneration auch ganz junge Mögglinger. Manche haben ihre persönliche Verbindung zum 22. Februar 1945, einige sind schlicht neugierig auf unsere Geschichte.

„Offensichtlich wurde Ihr Ort als Folge eines Angriffs auf Aalen getroffen“, schreibt Timothy Nenninger, der amerikanische Archivmitarbeiter, der nach meiner Anfrage die Unterlagen in Maryland durchsucht. Sein Anschreiben ist knapp, er überlässt die Dokumente unserer Interpretation. Der 22. Februar war ein Teil der amerikanischen Großoffensive im Februar 1945, eine Woche zuvor hatte Dresden vier Angriffswellen erlebt, die in die Geschichte eingingen. Am 23. Februar stand Pforzheim in Flammen. Was wir aus dem Archiv bekommen, ist der taktische Bericht der Mission. Ein Einblick in das, was die Amerikaner vorhatten und was am Ende dabei herauskam. Eine dicht bestückte Tabelle spaltet die Mission in Zahlen: Flughöhen, Angriffsdauer, Uhrzeit.

Eine Internetrecherche zerschlägt die Hoffnung

Wie erwartet, ist Mögglingen auf keiner der angehängten Seiten als vorab ausgemachtes Ziel angegeben. Die Städte Gera, Zwickau, Hof, Saalfeld, Arnstadt, Bamberg, Kitzingen stehen mit ihren Rangierbahnhöfen und Eisenbahnknotenpunkten ganz oben auf der Liste. Als „Ziele zweiter Klasse“ gelten Forchheim und Ansbach. In die letzte Kategorie fallen „last resort targets“, Reserveziele: „Alle Rangierbahnhöfe, Eisenbahnbrücken oder Eisenbahnstrecken, die mindestens zehn Meilen östlich der Bombardierlinie liegen“. Die Vermutung vieler Mögglinger trifft zu: Die Amerikaner sind an diesem Tag auf entscheidende Verkehrsinfrastruktur aus.

Unter den Auswertungsbericht hat Earle E. Partridge seine Unterschrift gesetzt, der befehlshabende General der Mission. Es ist der einzige Name, der in den Dokumenten auftaucht. Eine kurze Internetrecherche zerschlägt unsere Hoffnung, dass da noch jemand ist, der uns hinführen könnte zu dem einen Kommandeur, der als Anführer der Staffel mit einem Angriff auf das Dorf haderte. General Partrigde lebt seit 1990 nicht mehr.

Dann, auf einem einzelnen Dokument, steht der Ortsname explizit: „Vier Bombengruppen mit insgesamt ungefähr 80 (Bomben, Anmerkung der Redaktion) landen im freien Feld direkt südlich des Orts Mögglingen, der sieben Meilen westlich von Aalen liegt.“ Das Publikum im Dorfhaus staunt nicht schlecht: Die Amerikaner wussten – zumindest im Nachhinein – vom kleinen Örtchen Mögglingen. Für Alfred Hudelmaier ist das mehr, als er in den vergangenen 70 Jahren zu erwarten wagte: Selbst diese Aktion, für den Kriegsverlauf völlig unbedeutend, ist minutiös festgehalten.

Das Grübeln geht weiter

An dieser Stelle halten Hudelmaier und ich unsere Präsentation an, denn in der Begründung für den Verlauf der Mission tauchen aus seiner Sicht eigenartige Sätze auf. Sie sind ein krasser Kontrast zu seinem Bild im Kopf von blauem Himmel und klarer Sicht: „Wegen extrem schlechten Wetters attackierten alle anderen Einheiten Gelegenheitsziele“ und „eine kleine Wolkenlücke über Aalen erlaubt eine zehnsekündige visuelle Synchronisierung des Umschlagbahnhofs“. Auch die Zeitzeugen im Dorfhaus können diese Beschreibung nicht verstehen: Keiner will sich an trübes, gar turbulentes Wetter erinnern.

Der Deutsche Wetterdienst kann mir keine konkreten Wetterdaten für Mögglingen zu diesem Datum schicken, ein Datensatz dokumentiert im rund 30 Kilometer entfernten Ellwangen keinen Niederschlag, nur schwachen Wind. In der Region soll die Wolkendecke den Großteil des Himmels bedeckt haben. Ein schöner Tag mit viel Sonnenschein klingt anders – doch turbulente Bedingungen auch.

Nach seiner ersten Euphorie über den amerikanischen Archivfund ist bei Hudelmaier die Ernüchterung zurückgekehrt. Monate nach der Präsentation sitzt er wieder an seinem Holztisch im Archiv. Sein zaghaftes Lächeln deutet auf gefühlte Ohnmacht hin. Er kann die Behauptung nicht akzeptieren, dass die amerikanische Luftwaffe wegen schlechten Wetters zufällig neben dem Dorf die Bomben abgeworfen haben soll. Das Grübeln geht für ihn weiter. „Ich stelle mir vor, dass das eine Notlüge war, das muss anders gewesen sein.“ Sein Bild im Kopf ist gestochen scharf: Sonnenschein, klare Sicht in jede Richtung.

Trügt Alfred Hudelmaier und seine Altersgenossen die Erinnerung nach all den Jahren? Oder waren die Verhältnisse unweit ganz anders? Gut denkbar, dass – wie so oft – am 22. Februar 1945 die Wolkendecke erst ab dem „Aalener Becken“ aufbrach und der Himmel in Richtung Remstal aufklarte, während über den Ellwanger Bergen und über dem Härtsfeld der Nebel hing. Nachdem die US-Airforce wegen schlechter Sicht auf Gelegenheitsziele ausweichen musste, hatte sie nach Aalen möglicherweise zum ersten Mal über Mögglingen freie Sicht und damit tatsächlich eine Wahl: Bomben auf das Dorf oder daneben. Eine These, die Platz lässt für eine bewusst humanistische Entscheidung.