Der algerische Friedenspreisträger Boualem Sansal zieht ein Jahr nach Beginn des Arabischen Frühlings eine ernüchternde Bilanz.

Kultur: Stefan Kister (kir)
Stuttgart – - Kaum gibt es Wahlen in Ägypten und Tunesien, gewinnen dort islamistisch orientierte Parteien. Ist der Aufbruch damit schon am Ende? Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal war zu Gast in der Stadtbibliothek Stuttgart. Im Gespräch mit der StZ erklärt der leidenschaftliche Streiter für Freiheit und Demokratie, warum ihn die Entwicklungen in der arabischen Welt mit Sorge erfüllen.
Herr Sansal, sollen wir über Literatur oder über Politik reden? Oder läuft das ohnehin auf dasselbe hinaus?
Für mich ist das kein Entweder-Oder. Die Menschen in meinen Büchern leben in einer Gesellschaft, die Probleme hat, und darüber muss man schreiben.

Das klingt nicht nach L’art pour l’art. Trotzdem haben Ihre Romane einen eigentümlichen Klang, leben eine geradezu ausschweifende Lust an Bildern und Worten aus.
Dichtung, die ihren Namen verdient, kann trotzdem konkrete Ziele verfolgen. Und umgekehrt. Das ist wie beim Klavier: Sie können alles Mögliche darauf spielen. Die Frage ist nur, klingt es richtig oder falsch.

Sind Sie als Schriftsteller gekränkt, wenn man Ihnen vor dem Hintergrund der sogenannten Arabellion vor allem Fragen stellt, die man auch einem politischen Beobachter stellen könnte?
Ganz und gar nicht. Die Realität ist wichtiger als die Fiktion. Was im Maghreb, in Syrien und Jemen gerade passiert, ist sehr interessant. Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, darüber zu sprechen.

Sie wurden wegen Ihrer regimekritischen Bücher aus dem Staatsdienst entlassen. Ist die Bewegung, die die arabische Welt erfasst hat, das, auf was sie hingearbeitet haben?
Ich bin von meinem Ziel noch weit entfernt. Ich träume von demokratischen Verhältnissen auch in meinem Land, in Algerien. Mein einziges Mittel, dafür zu kämpfen, ist das Schreiben. Deshalb versuche ich wahre Geschichten erzählen, die die Verhältnisse widerspiegeln und sich über geltende Tabus hinwegsetzen.

Die Liste der Tabus haben Sie bisher mutig abgearbeitet: Sie haben über die Situation der Frauen geschrieben, Islamisten mit Faschisten verglichen, in ihrem jüngsten Roman bewegt sich der Protagonist in homosexuellen Kreisen. Werden Sie damit in Algerien gehört?
In arabisch-islamisch geprägten Gesellschaften spricht man über bestimmte Dinge nicht. Diese Aufgabe kommt den Schriftstellern zu. Viele Menschen finden sich in meinen Romanen wieder, dürfen sich dazu aber nicht bekennen. Meine Bücher gelten als subversiv, der Staat tut alles, sie zu unterdrücken. Doch die Menschen sind dankbar, dass ich für sie spreche.

Man hat im Zuge der Aufstände viel über die Rolle der sozialen Medien diskutiert. Kann die Literatur da mithalten?
Die Frage ist, wie verbreitet man in einer Gesellschaft Ideen. Gedanken sind wie Luft: sie breiten sich aus und suchen sich den Weg, der eben offen steht. Und auf Dauer gelingt es keinem Regime, alle Ritzen abzudichten. Durch das Internet bekommen die jungen Menschen mit, wie ihre Altersgenossen anderswo leben, und stellen fest, wie sehr sie in ihren eigenen Ländern von allem abgeschnitten sind. Das ist sicher ein Grund für die Rebellion gewesen. Doch ich sehe kein Konkurrenzverhältnis. Literatur ist ein Kanal, Facebook ein anderer. Ich habe mich entschlossen, mit meinem Schreiben für die Freiheit zu kämpfen. Und deshalb lebe ich trotz aller Drangsale immer noch in Algerien.

Im vergangenen Oktober haben Sie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten. Hat das Ihre Lage verbessert?
Mehr, als ich erwartet habe. Es gab Unmut in Kreisen der Bevölkerung, dass versucht wurde, eine so wichtige Auszeichnung von staatlicher Seite völlig zu übergehen. Mittlerweile klopft man mir auch offiziell hin und wieder verschämt auf die Schulter und es wurde genehmigt, immerhin tausend Exemplare meines letzten Romans im Land zu vertreiben. Sie liegen zurzeit allerdings noch beim Zoll. Der algerische Botschafter war der Preisverleihung in der Paulskirche ferngeblieben. Kürzlich hat er sich bei mir dafür entschuldigt, ein wichtiger Termin sei dazwischengekommen. Das sind kleine Signale, die man nicht überschätzen sollte. Aber immerhin.


Sie haben sich zu Beginn des Arabischen Frühlings zwar hoffnungsvoll, doch auch skeptisch geäußert. Was überwiegt nach einem Jahr: Hoffnung oder Skepsis?
Mein Pessimismus hat sich bestätigt. Wie schön sah das am Anfang aus, wie poetisch: die jungen Menschen, die den Diktatoren „Haut ab!“ zuriefen, der Freiheitsaufbruch auf dem Tahrir-Platz. Aber was bedeutet Freiheit? Einen Diktator zu verjagen, um einen anderen zu installieren? Eine Ideologie durch eine andere zu ersetzen? Den hehren Begriffen, die der Wind des Aufbruchs mit sich geführt hat, entspricht die Wirklichkeit nicht. Demokratie ja, aber nicht für Frauen. Freiheit ja, aber nicht für Juden und Schwule – bei einer Demonstration in Tunesien wurde kürzlich gefordert, sie aus dem Land zu jagen. Mich erinnert das sehr an das, was sich in Algerien 1988 nach der Revolution abgespielt hat: Man rief nach der Freiheit, aber die Islamisten kamen. Man braucht sehr viel Zeit. Und es ist die Frage, wer sich im Haus der Demokratie einrichten wird, die Islamisten, die alten Machteliten oder die Militärs.

Sie werben für Vielfalt, für die Rechte von Minderheiten. Aber Sie zeichnen ein sehr pauschales Bild von den Islamisten. Muss man nicht zwischen einzelnen Gruppierungen, verschiedenen Ländern und alternativen Modellen genauer unterscheiden?
Sicher sollte man vorsichtig sein. Es gibt nicht zwei Menschen in der Welt, die dasselbe denken. In einer Gesellschaft müsste Platz für jeden sein. Das Problem ist nur, dass bestimmte Ausprägungen des Islamismus für einen Teil der Menschen eben gefährlich sind. Natürlich gibt es Unterschiede: Ein Salafist würde einen Homosexuellen am liebsten um einen Kopf kürzer machen. Ein Gemäßigter würde sich damit begnügen, ihn ins Gefängnis zu werfen.

Sie haben einmal gesagt, wenn die Frauen frei sind, kommt der Rest von alleine. Sind die Frauen freier geworden?
Das Barometer für den Grad an Demokratie in unseren Ländern ist in der Tat die Lage der Frauen. Während der letzten dreißig Jahre hat sich diese erheblich verschlechtert. Die Entwicklung des vergangenen Jahres wird daran nichts ändern, so sehr auch Frauen in der ersten Reihe der Aufständischen zu finden waren. Unter den sozialistischen, laizistischen Regimen waren die Bedingungen für Frauen besser, zumindest von der Rechtslage her – de facto gab es immense Unterschiede zwischen Stadt und Land. Wo die Religion das Politische determiniert, werden die Rechte der Frauen eingeschränkt. Und genau das ist es, was droht.

Im bürgerlichen Beruf waren Sie mit der Industrieentwicklung befasst. Glauben Sie an den Fortschritt?
Was bringt eine Gesellschaft wirklich voran? Die Industrialisierung hat den Westen stark gemacht. Und sie galt auch als das Allheilmittel für die Entwicklungsdefizite des Teils der Welt, aus dem ich komme. Doch die Industrie hat eine feindliche Umwelt geschaffen. Sie hat den sozialen Zusammenhalt zerstört, die Gesellschaft zersplittert, familiäre Bande zerstört, den Egoismus inthronisiert. Das ist ein Grund für den religiösen Rollback, den wir gegenwärtig erleben. Was wir brauchen, ist nach der industriellen eine moralische Revolution.

Könnte das, was sich gerade in der arabischen Welt tut, nicht doch ein erster Schritt dahin sein?
Ich fürchte eher, es könnte ein Schritt zurück werden. Die moralische Revolution wird vom Westen ausgehen. Vielleicht sind die vielfältigen Bewegungen, die sich dort gerade zusammenschließen, ein erstes Wetterleuchten davon.
Das Gespräch führte Stefan Kister.