Für Männer sei „jede Frau ein Rätsel, dessen Lösung er bei der nächsten sucht“. Walter Sittler sagte es am Sonntag mit Jeanne Moreau. In der Galerie Valentien sprach der Schauspieler über das Buch „Charakterköpfe – Stuttgarter Frauen“, zu dessen Premiere fast alle Porträtierten kamen.

Stuttgart - Kann eine Stadt überhaupt ein Zuviel an Charakterköpfen haben? Wohl kaum. Also haben es die Macher noch einmal gemacht – und dem Männerband mit „Stuttgarter Charakterköpfen“ nun einen solchen mit Frauenporträts folgen lassen. Ein in jeder Hinsicht starkes Stück, weshalb zur Präsentation des Bandes in der Galerie Valentien am Sonntagmorgen dann ein Andrang herrschte, als hätte das Geläute der Christuskirche nicht das Volk der Gläubigen in den nahen Sakralbau gerufen, sondern die Neugierigen zur Buchpremiere in den schmucken Bonatz-Bau geschickt. Ein säkulares Ereignis, bei dem sich die Hundertschaft zunächst bis in den parkartigen Garten verteilte.

 

Fast alle der Porträtierten waren gekommen: Politikerinnen wie Mutherem Aras, Ute Vogt, Brigitte Lösch und Veronika Kienzle, Musikerinnen wie Fola Dada, Jenny Marsala, Jeschi Paul und Susanne von Gutzeit, Direktorinnen wie Gabriele Frenzel, Winzerinnen wie Sonja Beck, Künstlerinnen wie Christa Winter, Iris Caren von Württemberg und Silvie Brucklacher-Gunzenhäußer, Sportlerinnen wie Heidi Sand und Kim Renkema, Designerinnen wie Lissi Fritzenschaft, Unternehmerinnen wie Hochland-Chefin Martina Hunzelmann, Intendantinnen wie Susanne Heydenreich, Wirtinnen wie Giovanna Di Tommaso und Sonja Merz, Bloggerinnen wie Christine Garcia Urbina, Verlegerinnen wie Karin Endress, Christel Werner und Jolanta Gatzanis, aber auch Mascha Hülsewig, die Chefin der Erotik-Boutique Frau Blum – Frauen, die jede auf ihre Weise die Stadt prägen oder typisch für Stuttgart sind.

Dazu gesellten sich männliche Charakterköpfe wie Impressario Michael Russ, Wittwer-Chef Rainer Bartle, Zauberkünstler Thorsten Strotmann, Verleger Titus Häussermann, Renitenz-Theaterchef Sebastian Weingarten, Robin K. Bieber von der Cast Academy, Gastrosoph Bernd Heidelbauer, Blogger Patrick Mikolaj und viele andere.

Picasso in der Nachbarschaft

Wer drinnen an den gehängten Foto-Kunstwerken vorbeischlenderte, konnte auf den Gedanken kommen, dass sich die starken Frauen der verteilten Picasso-Grafiken nicht genieren mussten ob ihrer neuen Nachbarschaft.

Die Stuttgarter Charakterfrauen sind auch vor dem Objektiv keine Objekte, schon gar nicht des männlichen Blicks, sondern selbstverständliche Akteure ihrer Selbst. Sie und nur sie entscheiden als selbstbewusste Subjekte, was sie im Augenblick der Ablichtung preisgeben wollen und was nicht – weshalb sich der Fotograf Wilhelm Betz bei der Auswahl zur Veröffentlichung denn auch dem Willen der Porträtierten zu beugen hatte. Etwa, „wenn ihnen eine Aufnahme zu persönlich erschien“, wie Betz in seiner Ansprache erzählte. Dabei gab er auch Einblicke in seine Arbeitsweise, die dem Grundsatz folge: „Schaffe Ordnung in der Gestaltung, finde den richtigen Kontrast, reduziere aufs Wesentliche.“ Für den authentischen Ausdruck sei eine Wohlfühlatmosphäre beim Shooting unerlässlich, weshalb er die Frauen in deren Zuhause oder an deren Wirkungsstätte fotografiert habe. Entstanden sind Schwarz-Weiß-Fotos, die in ihrer nuancenstarken Feinheit und Plastizität an den Ursprung der Fotografie als Lichtbildnerei gemahnen: komplett auf den Charakterkopf konzentrierte Menschendarstellung in Reinkultur. Auf den Originalen, aber auch in der sorgfältigen Wiedergabe in dem vom Silberburg-Verlag produzierten Band, für den erneut der StZ/StN-Redakteur Uwe Bogen die Texte verfasst – mit Radiojournalistin Conny Mertz-Bogen als Ko-Autorin. Bei einem Frauenbuch, meinten die Macher, sollte auch eine Frau mitschreiben.

Kein abstraktes Schönheitsideal

Höhepunkt der Präsentation war die Rede des Schauspielers Walter Sittler, der glaubte, in einem Stein im Garten den auf Vorrat gehaltenen „Grabstein für Stuttgart 21“ entdeckt zu haben, worauf er aber gleich bei der Würdigung der Charakterköpfe war – obwohl er die Aufgabe lieber bei einer Frau gesehen hätte. Denn für Männer sei „jede Frau ein Rätsel, dessen Lösung er bei der nächsten sucht“, zitierte Sittler Jeanne Moreau. Sie diente ihm auch sonst als Referenz. So folgten die Fotos „keinem abstrakten Schönheitsideal, sondern verlocken zum wiederholten Schauen. Kleinigkeiten, ein Riss, ein Bruch – und plötzlich wird es lebendig“, stellte Sittler fest. So spiegelten die Porträtierten die „wunderbare Vielfalt dieser Stadt“. Auch unter diesem Aspekt verlockten die Abbildungen dazu, „die andere Person jeweils mit Neugierde und Respekt zu betrachten.“