Büchereien wandeln sich immer mehr vom Ausleih- zum Aufenthaltsort, so auch die Stuttgarter Zweigstellen in Degerloch und Plieningen. In Sillenbuch gibt es dank des Einsatzes Ehrenamtlicher zwei Bibliotheken.

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Filder - Die Stadtteilbücherei Plieningen hält Nachmittagsschlaf. Die Sonne taucht die Räume in warmes Licht, eine Frau stöbert bei den Romanen, eine andere hat es sich lesend auf der Couch bequem gemacht. So still dürfte es hier selten sein. Die Rutsche für die Kinder ist gerade nur Requisite. Rose Reif liebt diese Rutsche, auch wenn sie mit ihren 58 Jahren längst aus dem Alter raus ist. „So eine Rutsche hat sonst keine Stadtteilbücherei“, sagt die Leiterin der Plieninger Zweigstelle.

 

Die Rutsche steht für den Wandel

Etwas zu haben, was andere nicht haben, das hat viel mit der guten Zukunft von Büchereien zu tun. Natürlich nicht nur, aber eben auch in Plieningen. Die Kinderrutsche steht für den Wandel, der in vollem Gange ist. Es reicht nicht mehr, dass der bekannte Lesestoff von Martin Suter bis Janosch in den Regalen darauf wartet, ausgeliehen zu werden. Die Bücherei von morgen ist ein Ort, an dem die Menschen sein wollen, an dem sie nichts zu essen oder trinken kaufen müssen, an dem sie kosten- und drahtlos im Internet surfen können, ein Ort also, der nicht ihr Zuhause ist, aber etwas in der Art.

Die Transformation der Bücherei in ein öffentliches Wohnzimmer hat auch eine akustische Komponente. Galt früher einmal der unumstößliche Grundsatz, Bücherei ist gleich mucksmäuschenstill, ist im Jahr 2016 ein Jauchzer beim Rutschen in der Stadtteilbücherei Plieningen ausdrücklich erlaubt, wie Rose Reif sagt. „Das hat sich komplett gewandelt.“ Rose Reif arbeitet seit 17 Jahren in der Plieninger Zweigstelle, und wenn sie über ihre Bücherei spricht, sprudelt es nur so aus der Frau mit den feuerroten Haaren. Sie leitet die Bibliothek glasklar nicht nur, um ihre persönlichen laufenden Kosten zu decken, sondern vor allem aus Leidenschaft. Deshalb gehört es für sie zu privaten Städtetouren, zu schauen, wie sich andere Büchereien für die Zukunft wappnen.

Die Plieninger Stadtteilbücherei ist eine von 17 Zweigstellen in der Landeshauptstadt. „Die Stärke des Stuttgarter Bibliothekssystems ist die Dezentralität“, sagt Inka Jessen, bei der Stadtbücherei Stuttgart zuständig für die Außenstellen in den Bezirken. „Wir schauen, dass wir überall präsent sind“, sagt sie. Wenn nicht mit einer festen Zweigstelle, dann zumindest mit der Fahrbibliothek. Während es in den Bezirken Plieningen und Degerloch eine Stadtteilbücherei gibt, müssen sich die Birkacher und Sillenbucher mit dem Bücherbus begnügen. Wobei die rollende Bücherei beliebt ist, die Sillenbucher Haltestelle an der Deutsch-Französischen Grundschule ist die, an der die meisten Bücher ausgeliehen werden. Dreieinviertel Stunden hält der Bücherbus deshalb mittlerweile donnerstags an der Silberwaldstraße.

Ehrenamtliche machen Bücherei

Während die Birkacher Ausleiher tatsächlich allein auf den Bus angewiesen sind, hat Sillenbuch zwei Alternativen – dank rühriger Ehrenamtlicher. Zum einen verleiht Bernd Hoffmann in der Alten Schule in Riedenberg seit vergangenem Jahr gratis erlesene Lektüre an die Bezirksbevölkerung (Öffnungszeiten siehe Textende). Und während Hoffmann gerade erst begonnen hat, kann die öffentliche Bücherei der katholischen Kirchengemeinde Sankt Michael bereits auf einige Jahre zurückblicken. Die Bücherei gibt es schon eine ganze Weile: Angefangen hat es in den 1950ern mit ein paar Bücherschränken. Heute öffnen Ehrenamtliche die Bibliothek mit ihren 3500 Medien – Bücher, Hörbücher, Spiele und Zeitschriften – zweimal die Woche stundenweise. Die Ausleihe ist kostenlos. An Zuspruch mangelt es nicht. Die statistische Kurve für die Besucherzahl wandert seit 2011 stetig nach oben.

Über die Ausleihzahlen in den städtischen Bibliotheken Plieningen und Degerloch kann Inka Jessen auch nicht klagen. In Degerloch sind im vergangenen Jahr 176 368 Medien ausgeliehen worden, das sind fast genau so viele wie zehn Jahre zuvor. In Plieningen waren es im Jahr 2015 insgesamt 140 608 Medien, zehn Jahre zuvor 160 899. Die ausleihfreudigsten Leser sind laut Jessen in der Stadtteilbibliothek West anzutreffen, eine noch recht neue Filiale. Sie ist 2005 eingerichtet worden, was zeige, dass die Stadt ins Büchereiwesen investiere. Als nächstes bekomme 2018 Heslach in Stuttgart-Süd eine Bücherei.

Der Wandel in den Bibliotheken ist kein Niedergang, verlangt aber Umstellungen. Das Interesse der Nutzer verschiebe sich zusehends vom gedruckten Buch zu E-Books, E-Learning und Internetdatenbanken. „Das wächst exponentiell“, sagt Jessen. Die Welt der Bücherei ist digitaler geworden. Was durchaus auch seine Vorteile hat.

Mehr sei nicht automatisch besser

Birgit Weinmann sagt, sie habe heute viel mehr Zeit für die Leser. Sie erinnert sich noch gut, wie es früher in der Stadtteilbücherei Degerloch zuging, da suchte sie in der papierenen Kartei nach einem Titel, heute ist die Information ein paar Mausklicks entfernt. Weinmann ist seit drei Monaten Leiterin der Zweigstelle, sie macht beruflich aber bereits zum zweiten Mal Station in Degerloch. Als Anfängerin war sie von 1988 bis 1992 dort. Zuletzt war sie jahrelang die Leiterin der Fahrbibliothek.

Der Bestand in Degerloch ist in den vergangenen zehn Jahren geschrumpft. 2015 waren es 40 000 Medien, 2005 waren es 50 000. Weinmann sieht keinen Grund, aufzustocken. Mehr ist für sie nicht automatisch besser. Die Stadtteilbücherei wolle für den Stadtbezirk da sein, sagt Weinmann. Eben ein Wohnzimmer. Nur leider wird es in dem Wohnzimmer im Berolina-Haus immer wieder eng, weshalb Weinmann mit der Leitung gleichzeitig ein Projekt übernommen hat. Das Projekt, dass die Bücherei eine neue Bleibe bekommt. Damit diese eines Tages auch in so schönem Ambiente wie ihr Plieninger Pendant ein Nachmittagsschläfchen halten kann, während die Sonne durch die Scheiben scheint.

Wissenswertes rund um die Bücherei:

Ein Büchereiausweis kostet in Stuttgart 20 Euro im Jahr. Bis 18 Jahre ist er kostenlos. Ausgeliehen und zurückgegeben werden kann bei jeder Zweigstelle, im Bücherbus aber nur Bücherbusbücher. Neben der normalen Ausleihe gibt’s die Onleihe, bei der Ausweisinhaber digitale Medien ausleihen können. Mehr Informationen gibt es hier.

Plieningen, Neuhauser Straße 1, Mo/Do 12-19 Uhr, Mi/Fr 14-19 Uhr; Degerloch, Löffelstraße 5, Di/Do/Fr 14-19 Uhr, Mi/Do/Sa 10-13 Uhr; Sillenbuch, Kleinhohenheimer Straße 11, Do 16-18 Uhr, So 10-12.30 Uhr; Riedenberg, Schemppstraße 10, Mi von 17-19 Uhr sowie Sa 14-17 Uhr.

Das Konzept Open Library kommt aus Dänemark, schon seit Jahren öffnen dort Büchereien auch außerhalb der Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter. Die Besucher bewegen sich frei, halten sich auf, Bücher sind eher Nebensache. Die Stadtbibliothek Hamburg hat die Idee als erste bundesweit kopiert