Reportage: Robin Szuttor (szu)
Merkten Sie, dass der Krieg immer näher kam?
Ja natürlich. Am Ende ist die Sirene sieben, acht Mal am Tag losgegangen. Wir konnten die Luftkämpfe über Berlin sehen und die Abstürze. Manche Flieger sind ganz nah bei Eberswalde runtergegangen. Ich wurde dann Melder, musste bei den Angriffen draußen bleiben und gucken, wo es brennt und es dann im Rathaus melden. Meine Mutter hat viel Angst um mich gehabt. Ich war stolz, so wichtig zu sein.
Irgendwann mussten Sie gehen.
Es hieß: „Eberswalde wird verteidigt.“ Wir hatten zwei Tage Zeit, um die Stadt zu verlassen. Meine Mutter hat unsere Wertsachen in einer Kiste im Keller vergraben. Wir packten das Nötigste auf zwei Fahrräder. Um acht Uhr am Morgen ging es los. Ich trug meine genagelten Schuhe und meine Überfallhosen, die waren damals groß in Mode. So marschierten wir mit sechs Familien aus unserem Karree in einem Trupp los. Unsere Wegzehrung reichte nicht lange. Den Durst löschten wir an den Brunnen, die es in jedem Ort gab. Einmal hat uns eine Frau einen Hefekranz mit Honig geschenkt. Es war ein großer Zusammenhalt in der schweren Zeit. Wir waren ja alle die gleichen armen Hunde. Alle halfen einander. Abends suchten wir uns ein Quartier und haben immer ein Plätzchen gefunden. Wir wurden nie abgewiesen, bekamen immer ein Nachtessen und Frühstück. Wir schliefen im Stall, auf dem Küchenboden, selten auch in einem Bett. Waschen und Zähneputzen fielen aber aus.
Sie waren eine eingeschworene Fluchtgemeinschaft?
Nach zwei Wochen waren nur noch meine Mutter, meine Schwester und ich übrig. Die anderen Familien waren nach und nach abgefallen. Die einen hatten sich wieder auf den Rückweg nach Eberswalde gemacht. Die anderen waren in irgendeinem Dorf geblieben, weil sie nicht mehr weiterwollten oder -konnten – auch wegen ihrer Babys. So waren wir auf uns selbst gestellt. Wir schlossen uns aber immer wieder Soldatentrupps an, die auch auf der Flucht waren. Einmal wurden wir von russischen Fliegern beschossen und rannten wie blöd in den Wald.
Hatten Sie Angst?
Das kann man eigentlich nicht sagen.
Aber Sie kennen das Gefühl der Angst?
An und für sich kenne ich das Gefühl nicht.
Gut. Wie ging es damals weiter?
In Stendal sind wir über die Elbe. Wir ließen unsere Räder und alles Gepäck zurück, mussten senkrecht die Stufen der Schleuse runter und sind dann mit einem Boot rübergefahren. Auf der anderen Seite warteten schon die Amerikaner. Die deutschen Soldaten, mit denen wir unterwegs waren, wurden in Gefangenschaft genommen. Wir gingen weiter. Ich erinnere mich übrigens nicht mehr, wie wir immer den richtigen Weg gefunden haben. Wir hatten ja keine Karte.
Es muss eine Erlösung gewesen sein, als Sie dann bei Ihrer Tante vor der Tür standen.
An Pfingsten waren wir am Ziel. Meine Mutter war sehr glücklich. Aber komischerweise war keiner von uns richtig ausgelaugt, wir waren eher eingelaufen. Vielleicht auch, weil das Wetter so schön war. Und es waren ja auch herrliche Landschaften, durch die wir marschierten. Meine Mutter und ich haben auf dem Weg viel gesungen: „Hoch auf dem gelben Wagen“, „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“, „Heute wollen wir das Ränzlein schnüren“.
In Gellmersbach aßen Sie sich erst mal satt?
Oh ja, meine Tante war ja Bäuerin! Und wir bekamen neue Kleider, Unterwäsche. Und dann bin ich verkauft worden für einen Liter Milch am Tag. Das bot meine Tante einem Mann aus dem Dorf, wenn er mich in die Werkzeugmacherlehre nimmt. Es war eine harte Zeit, der alte Meister ein ungehobelter Mensch. Nach der Prüfung hat er mich entlassen. Ich fand eine Stelle in Heilbronn. Dort merkte ich zum ersten Mal, dass mir mein Beruf Spaß macht.
Wie erging es Ihrem Vater?
Der kam aus der Gefangenschaft, als ich 17 war und ausgelernt hatte. Da kann man natürlich nicht mehr Erzieherles spielen. Es war schwer für ihn, wieder in die Familie reinzufinden. Er zog mit meiner Mutter nach Heilbronn, sie bekam einen Tumor im Kopf und wurde leider nicht alt. Bei mir erwachte irgendwann die Abenteuerlust. Ich fuhr mit einem Bananendampfer nach Ecuador, wo ich mir gleich die Amöbenruhr einfing. Ich versuchte, mir Haferflockenschleim gegen den Durchfall zu besorgen. „Crema de avena“ waren meine ersten spanischen Worte. Und Zanahoria sind Gelbe Rüben. Aber das mögen die Einheimischen nicht, die essen lieber Meerschweinchen, meine Wirtin hatte die ganze Küche voll mit ihnen. Einer meiner ersten Jobs war in Cajabamba, dort hatte es die Rohre des Wasserkraftwerks verrissen. Ich sollte sie reparieren, einem Deutschen traute man alles zu. Es war auch nicht so schwierig. Abends bin ich auf einem Esel heimgeritten, die Leute riefen „Buenas noches Hombre“. Ich kam mir vor wie Jesus auf dem Ölberg.
Kein Heimweh?
Nein. Aber nach fünf Jahren hatte ich genug. Ich fand Arbeit bei Bosch in Feuerbach. Bald kam es mir aber in den Sinn, nach Kanada zu gehen. Ich blieb nur ein Jahr, weil ich zwischenzeitlich eine Frau kennengelernt hatte und sie wollte, dass ich zurückkomme. Wir heirateten, bekamen einen Sohn. Aber ich muss sagen, es war keine gute Ehe. Man weiß es halt vorher nie. Mit meiner Gerlinde bin ich seit 20 Jahren zusammen. Und ich sage immer, es ist eine gute Ehe, obwohl wir nicht verheiratet sind.