Werner Böhm hat 1945 auf seiner Flucht vor den Russen 700 Kilometer zurückgelegt: Folge 11 der StZ-Gesprächsreihe „Bürgersprechstunde“.

Reportage: Robin Szuttor (szu)
Korb - – Die schmale Treppe wird durch die Fahrschiene des Treppenlifters noch enger. Die Katze namens Mieze sitzt im Wohnzimmer auf hochflorigem Teppichboden vor einer dunklen Schrankwand. Das schöne graufellige Tier hat vor 15 Jahren an der Haustür in Korb um Einlass gebeten und gehört seitdem zur Familie. Sie ist geschmeidig wie eh und je, Werner Böhm kommt dagegen immer schlechter daher. Am nächsten Tag muss er wegen seiner künstlichen Hüften wieder in eine Ludwigshafener Spezialkinik. Werner Böhm hat uns geschrieben, weil ihm nun im Alter wieder die Tage der Kindheit und Jugend präsent werden. An eine Sache muss er in letzter Zeit besonders oft denken, obwohl er sie schon lange im Geiste abgeheftet glaubte: an die Flucht vor den Russen im April 1945.
Herr Böhm, erzählen Sie Ihre Geschichte!
Ich bin in Stuttgart geboren. Mein Vater war Zivilangestellter bei der Wehrmacht – Heereshauptwerkmeister. Wir mussten dann nach Eberswalde im Nordosten von Brandenburg umziehen. Im Krieg hat er eine Uniform gekriegt und wurde Oberstleutnant. Gegen Ende des Kriegs, mein Vater war schon in Gefangenschaft, floh ich mit meiner Mutter und meiner Schwester über Havelberg, Stendal, Halberstadt, Meiningen, Würzburg bis Gellmersbach bei Weinsberg. Vier Wochen waren wir unterwegs, legten 700 Kilometer zurück. Ich habe darüber nie groß nachgedacht, aber seltsamerweise werden die Erinnerungen nun wach, die Bilder wieder lebendig. Meiner Schwester, die in England lebt, geht es übrigens genauso. Ich bin jetzt 84 Jahre, aber in meinen Gedanken bin ich jetzt oft wieder der Bub, der damals mit 14 Jahren loszieht in ein neues Leben.
Ihre Kindheit, das war Eberswalde.
Ja. Es war eine schöne Kindheit, auch wenn ich Hunger geschoben habe. Wir waren eine Clique mit Buben und Mädle, haben im Winter Eishockey gespielt mit selber gemachten Stecken, im Sommer Steine geworfen gegen die anderen in der Straße. Ich habe aus den Schrebergärten das Essen für meine Familie zusammengeklaut. Wir hatten wenig: Mein Vater hat aus Russland manchmal Sonnenblumenöl in der Büchse geschickt. Das haben wir in die Pfanne getan, Salz dazu und dann Brot eingetunkt.
Aber eigentlich waren Sie damals der Ernährer?
Ich habe alles gemacht für meine Mutter. Im Winter bin ich mit dem Schlitten los zum Kohlenholen. Oder ich ging in die Kaserne, um auf den Dächern Eicheln zusammenzufegen, die tauschte ich im Wildpark gegen Märkle für Briefpapier, das ja damals rationiert war. Vor dem Schreibwarenladen machte ich die Märkle zu Geld. Oder aber ich bettelte uns bei den Soldaten etwas zum Essen ab, die kannten mich gut.
Sie gingen aber auch zur Schule.
Schon, aber wir hatten sehr viel Freizeit. Das Schönste an der Schule war, dass ich dort singen konnte. Ich war der einzige Bub im Mädchenchor, ich hatte eine gute Oberstimme. Ich sitze heute noch oft auf meinem Balkon und singe die alten Lieder vor mich hin.
Um Sie herum war der Krieg.
Ja, wir Kinder haben auch ständig Krieg gespielt. Beim Deutschen Jungvolk war ich auch. Wir wanderten viel – mit Backsteinen im Rucksack. Es machte mir aber keinen Spaß. Obwohl das bei den Nazis als verdächtig galt, hab ich mich auch konfirmieren lassen, musste immer heimlich zum Pfarrer gehen. Zum Fest hat meine Mutter einen Kaffeekuchen gebacken, das weiß ich noch. Und dass wir von der Schule aus Kartoffelkäfer suchen mussten, weil es hieß, die Amis werfen Kartoffelkäfer ab. Ich hab nie einen gefunden. Als 1939 zum ersten Mal die Sirenen gingen und wir in den Luftschutzkeller mussten, fand ich das sehr spannend.
Fehlte Ihnen der Vater?
Ich vermisste ihn nicht, ich war sehr selbstständig. Ich habe mir auch selber das Schwimmen beigebracht, aus Leinenstoff einen Schwimmgürtel genäht, den konnte man aufblasen, der war dicht. Meine Mutter hat oft geheult wegen meines Vaters. Sie wartete jeden Tag, ob der Briefträger Post von ihm bringt. Zwei, drei Mal war er kurz zu Hause. Aber es hat mir nicht viel bedeutet. Einmal haben wir uns auf der Straße getroffen. Er sagte, ich solle doch mit nach Hause kommen – aber ich musste ja zum Singen in die Kirche. Er sagte, ich solle da nicht hingehen – doch ich bin trotzdem gegangen. Eigentlich haben wir uns nicht gekannt. Er wollte immer mit mir lernen, wollte, dass ich unheimlich gescheit werde. Aber ich war kein großer Lerner.