Er ist ein Mann, der mitfühlen kann, wenn die Gläubigen mit Seelenleid zu ihm kommen. Ingo Sperl, der evangelische Pfarrer in Auenwald, erzählt in der Serie „Bürgersprechstunde“ über Trauer und Glück.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Auenwald – - Ingo Sperl ist für die Auenwälder Teilorte Ober-, Mittel- und Unterbrüden zuständig, außerdem für Weiler wie Rottmannsberg und Tiefental. Im nächsten Monat wird der evangelische Pfarrer seine weitläufige Kirchengemeinde am Fuße des Schwäbischen Waldes abgeben und sich in den Ruhestand verabschieden. Der 63-jährige Sperl will über sein Dasein als chronisch kranker Geistlicher sprechen.
Herr Sperl, erzählen Sie Ihre Geschichte!
Ich stamme aus Scharnhausen auf den Fildern. In meiner Jugend waren die Beatles, die Rolling Stones und Bob Dylan angesagt, und auch wir Dorfbuben ließen uns die Haare wachsen. Das war für die Alten ein Skandal, aber der evangelische Pfarrer hat sich an unsere Seite gestellt. Karl Dipper war für mich eine prägende Figur.
. . . der Sie nacheifern wollten?
Vielleicht hätte ich das gerne, aber ich traute mir die Theologie nach dem Abitur nicht zu. Stattdessen begann ich den Zivildienst bei der Unfallrettung. Wir waren im Ruiter Paracelsus-Krankenhaus stationiert und wurden zu schweren Unfällen auf der Autobahn gerufen: Ich habe Körperteile getragen, Kinder schreien hören, Menschen sterben sehen. Das war so schockierend, dass ich schnell wegwollte. Weil angehenden Geistlichen die Bundeswehr und somit auch der Zivildienst erlassen wurde, habe ich mich in Tübingen für evangelische Theologie immatrikuliert. Allerdings musste ich bis zum nächsten Semester warten, wodurch ich letztlich neun Monate als Unfallretter unterwegs war. Mittlerweile hatte ich mich an die Arbeit gewöhnt, ich wollte gar nicht mehr aufhören. Aber es gab kein Zurück mehr.
Müssten Sie einem Außerirdischen Ihre Religion erklären, was würden Sie sagen?
Mit manchen Glaubensthemen ist es in der Praxis schwierig. Wenn Sie fünf Kirchenmitgliedern ein und dieselbe Frage stellen, werden Sie fünf verschiedene Antworten bekommen. Man kann also nicht immer sagen: Wir Protestanten glauben dieses oder jenes. Ich glaube, was ich glaube, und ein anderer glaubt, was er glaubt. Mich fasziniert die Vielfältigkeit des Seins. Deswegen habe ich neben Theologie auch Volkskunde studiert.
Für Ihre Doktorarbeit beschäftigten Sie sich mit rumänischen Totenklagen. Wie kamen Sie auf dieses exotische Thema?
Mein Vater kam ursprünglich aus dem rumänischen Banat, und ich interessierte mich für diese Wurzeln meiner Familie. Zudem war ich seinerzeit selbst ein Trauernder, weil sich meine erste Ehefrau das Leben genommen hatte. Aus dieser Betroffenheit heraus wollte ich etwas über Trauerrituale erfahren. Ich habe Klagefrauen in Siebenbürgen aufgesucht, die quasi mit Worten weinen. Solche Rituale gab es einst in allen Gesellschaften, doch sie sind uns nach und nach verloren gegangen. Wir haben gelernt, uns in der Trauer zu kontrollieren. Wenn früher jemand auf einer Beerdigung laut heulte, hatte ich als Pfarrer auch den Impuls, denjenigen zu beruhigen. Nachdem ich mich mit dem Trauern auseinandergesetzt hatte, änderte ich mein Verhalten. Seither sage ich: „Man darf weinen. Nur wer nicht liebt, weint nicht.“