Reportage: Akiko Lachenmann (alm)
Und früher war das anders?
Wäre meine Mutter wegen jedem Vorfall in die Klinik gefahren, hätten wir einen Pendelverkehr einrichten können. Damals gab es ein Pflaster drauf und eins auf den Hintern. Aber früher war auch nicht alles besser. Da haben Kinder Spülmittel getrunken, weil die Eltern es haben rumstehen lassen. Oder sie wurden ohne Schuhe auf den Fahrradgepäckträger gesetzt und bekamen dann die Zehen in die Speichen. Das gibt wüste Verletzungen mit großen Fleischwunden. Die Kinder mussten wochenlang bei uns bleiben.
Und das alles ohne Rooming-in.
Genau. Für die Eltern gab es Besuchszeiten, den Rest der Zeit haben wir uns um die Kinder gekümmert. Es kam damals sogar vor, dass Eltern vor den großen Ferien ihren Säugling mit einer vermeintlichen Erkältung stationär im Krankenhaus aufnehmen ließen und dann erst zwei Wochen später braun gebrannt wieder bei uns aufkreuzten. Das wäre heute sofort ein Fall für das Jugendamt.
Sie hatten damals zumindest mehr Zeit für Ihre Patienten als heute.
Wir haben die Kinder bei schönem Wetter im Rollstuhl durch den Westen geschoben oder Ausflüge in die Wilhelma gemacht. Das wäre heute undenkbar. Früher waren aber auch Verweildauern von zwei oder drei Wochen völlig normal, heute bleibt ein Kind selten länger als drei Tage in der Klinik.
Gibt es vermeidbare Klassiker unter den Knochenbrüchen?
Ich habe viele Déjà-vus erlebt. Zum Beispiel in schneereichen Wintern. Am Wochenende bei Sonnenschein gehen die Väter mit ihren Kindern Schlitten fahren. Er sitzt hinten, das Kind vorn, die Beine schön unten drin. Wenn sich beim Bremsen dann zwei Zentner nach vorn schieben, macht’s knack-knack in den Oberschenkeln, und das Kind bekommt von mir einen Beckengips verpasst. Schlimm sind auch die City-Roller. Acht- bis Zwölfjährige sind damit ja richtig schnell unterwegs. Bleibt dann das Vorderrad irgendwo stecken, überschlagen sie sich und lassen dabei das Lenkrad nicht los. Mit beiden Unterarmen in Gips wird selbst das Pinkeln zum Problem.
Und so ein Gips juckt ja auch mit der Zeit ganz grässlich.
Wenn ich die Gipse wechsle, finde ich oft interessante Dinge darunter: Deckel von Stiften, Legosteine, kleine Autos, die sehnlichst vermisst worden sind . . .