Der querschnittsgelähmte Udo Strohäker kommt am Olympiastützpunkt Stuttgart wieder auf die Beine: Folge 23 der StZ-Gesprächsreihe „Bürgersprechstunde“.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Stuttgart – - Im Kraftkompetenzzentrum des Olympiastützpunkts Stuttgart geht es laut zu. Die Bundesliga-Handballer von Frisch Auf Göppingen bauen an den Trainingsgeräten ihre Muskeln auf und beschallen dabei die Halle mit Hardrock. Während Jon Bon Jovi „You give Love a bad Name“ aus den Lautsprechern grölt, sitzt Udo Strohäker hinter einer Glaswand im Rollstuhl und erzählt, wie er seinen Traumjob gefunden hat.
Herr Strohäker, erzählen Sie Ihre Geschichte!
Ich wurde am 1. April 1962 in Kuppingen, einem Ortsteil von Herrenberg, geboren. Mein Vater war Maurer. Nachdem er unserer Familie ein Eigenheim gebaut hatte, wollte ich unbedingt in seine Fußstapfen treten: Ich fand es schön, ein Haus wachsen zu lassen. Als ich 16 war, fiel mein Vater bei der Arbeit von einem Dach. Er wollte daraufhin, dass ich einen anderen Beruf wähle. Doch ich bin mit einem unterschriftsreifen Lehrvertrag zu ihm ins Krankenhaus gegangen. „Wenn du das durchziehen willst, muss ich wohl nachgeben“, sagte mein Vater. So wurde ich Maurer mit dem Ziel, es zum Meister zu bringen und noch weiter die Karriereleiter hochzuklettern. Doch im Mai 1984, ich hatte gerade die Bundeswehr hinter mir, änderte sich mein Leben schlagartig: Ich verunglückte und war anschließend querschnittgelähmt.
Was ist genau passiert?
Am Mittag hatte ich bei meinem Verein, dem TSV Kuppingen, Fußball gespielt. Danach wollte ich einen Freund besuchen. Auf dem Weg zu ihm bin ich mit meinem Opel Kadett zu schnell in eine Kurve gefahren. Beim Aufprall an der Leitplanke habe ich mir die Wirbelsäule zweimal gebrochen. Nachdem ich auf der Intensivstation der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Tübingen aufgewacht war, erklärte mir mein Arzt: „Herr Strohäker, Sie werden nicht mehr laufen können.“ Es war also klar, dass ich nie mehr meinen Beruf und nie mehr mein Hobby ausüben kann. Ich war am Boden zerstört und reagierte aggressiv: Meine damalige Freundin und meine Familie behandelte ich sehr schroff, obwohl sie versuchten, alles für mich zu tun, was sie tun konnten.
Wann haben Sie sich beruhigt?
Ziemlich schnell. Die Mitarbeiter der Unfallklinik wussten, wie man in solchen Fällen verfährt: Sie verlegten mich von meinem Einzelzimmer in ein Sechsbettzimmer mit lauter Querschnittgelähmten. Ich war mit meinen 22 Jahren der Älteste – und gleichzeitig derjenige, den es am wenigsten schlimm erwischt hatte. Ich konnte zwar meine Beine nicht mehr bewegen, aber andere waren vom Hals abwärts gelähmt. Einer musste sogar die Schwester rufen, wenn es ihn an der Nase juckte, weil er sich nicht selbst kratzen konnte. Aus dem noch größeren Leid der anderen konnte ich für mich neue Hoffnung schöpfen. Bereits im Krankenhaus begann ich, wieder Sport zu treiben, zunächst Ausdauertraining, dann hat mich der Klinikpsychologe zu den Tübinger Rollstuhlbasketballern gebracht. So merkte ich, dass ich trotz meines Handicaps noch viele Dinge tun kann, die mir Spaß machen.
Wie schwer ist Ihre Behinderung?
Ich habe eine inkomplette Querschnittlähmung, meine Suppe konnte ich beispielsweise immer selbst löffeln. Einige Monate nach dem Unfall legte ich mit Unterarmgehstützen bereits kurze Strecken auf meinen Beinen zurück – wie das möglich ist, weiß bis heute niemand. Mein Ehrgeiz, möglichst häufig auf den Rollstuhl zu verzichten, erwies sich jedoch als kontraproduktiv: Die ständige Fehlbelastung des Gelenkapparats führte zu neuen Einschränkungen bis hin zu einem Bandscheibenvorfall vor zwei Jahren. Und dann bin ich auch noch gestürzt und brach mir die Hüfte. Zwischenzeitlich konnte ich überhaupt nicht mehr gehen. Jetzt, wo ich hier am Olympiastützpunkt regelmäßig Physiotherapie bekomme, mache ich glücklicherweise große Fortschritte. In meiner Wohnung komme ich nun wieder ohne Rollstuhl zurecht, das ist für mich ganz wichtig.
Wie lief es beruflich?
Nach dem Unfall wurde ich zum Industrieelektroniker umgeschult. Man dachte, dass dies ein Beruf mit Zukunft sei, aber tatsächlich habe ich keinen Job bekommen. Über private Beziehungen wurde ich dann bei der IBM in Böblingen angestellt, zunächst in der Leiterplattenproduktion, später – nach einigen Fortbildungen – in der Arbeitsvorbereitung. Ich kalkulierte Produktkosten und legte Prozessabläufe fest, den Job hätte ich gerne bis zur Rente gemacht. Doch nach fünf Jahren wurde der Bereich an die Firma STP verkauft, die wiederum vier Jahre später insolvent war. Anschließend landete ich bei Multek, ebenfalls ein Leiterplattenhersteller, in der Produktion. Eigentlich war ich für diese Tätigkeit überqualifiziert, aber Hauptsache ein Arbeitsplatz: Ich habe eine Ehefrau und zwei Stiefkinder, ich möchte für meine Familie sorgen. Vor zweieinhalb Jahren beschloss Multek, die Produktion von Böblingen nach China zu verlegen. Also war ich kurz nach meinem 50. Geburtstag erneut arbeitslos.
Und vermutlich verzweifelt.
Das Blöde war, dass ich auch noch gerade den Bandscheibenvorfall gehabt hatte. Die Rentenversicherung bot mir an, an einem Programm namens „Rehastep“ teilzunehmen. Die Fortbildung fand in der Außenstelle Weilimdorf des Berufsförderungswerks Schömberg statt. Wir waren eine Gruppe von elf Leuten, alles Arbeitslose wie ich, die aus irgendeinem Grund als schwer vermittelbar galten: Einer hatte ein Burn-out-Syndrom, ein anderer Rückenprobleme. Anfangs wurden psychologische Tests gemacht, dann wurden die Stärken und Schwächen des Einzelnen herausgearbeitet. Interessant war, dass jeder sich selbst negativer einschätzte, als ihn die Gruppe bewertete. Zum Beispiel habe ich mich im Bereich „Kommunikation“ auf einer Skala von eins bis zehn bei sechs eingeordnet, die anderen gaben mir neun Punkte. Am Ende hatte jeder ein klares Profil von sich selbst, und man wusste, welcher Job einem liegen könnte.
Was kam bei Ihnen heraus?
Ich habe ein großes Interesse an Sport und kann sehr gut auf Menschen zugehen. Mein Coach sagte, dass er versuchen werde, am Olympiastützpunkt in Stuttgart etwas für mich zu finden. Ich habe meine Bewerbungsunterlagen zusammengestellt und bin hierhergefahren, um sie selbst abzugeben. Zunächst bekam ich ein Praktikum und anschließend eine bis zum Ende des nächsten Jahres befristete Anstellung. Übrigens wurde das Kraftkompetenzzentrum erst vor zwei Jahren eröffnet, es ist das einzige Gebäude am Olympiazentrum, das einen barrierefreien Zugang und eine Behindertentoilette hat. Früher hätte ich hier keine Chance auf eine Beschäftigung gehabt, ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Welche Aufgabenbereiche haben Sie?
Ich bin der Assistent der Sportwissenschaftler, kümmere mich um die Belegung der Halle und die Terminplanung der Mitarbeiter, erstelle Tabellen mit Messergebnissen und Statistiken.
Macht das Spaß?
Und wie! Die Atmosphäre am Olympiastützpunkt ist fantastisch. Leistungssportler verstehen sich als große Gemeinschaft. Man geht kameradschaftlich miteinander um, und es macht auch keinen Unterschied, ob jemand Olympiasieger oder ein C-Kader-Athlet ist.
Aber die Millionenkicker vom VfB tragen ihre Nasen doch sicherlich höher als beispielsweise die Bundesliga-Wasserballer.
Keineswegs. In dieser Halle ist noch keiner arrogant aufgetreten. Im vergangenen Jahr habe ich den VfB-Konditionstrainer Papadopoulos gefragt, ob es möglich wäre, dass die Spieler ein Trikot für meinen Enkel unterschreiben. „Kein Problem“, hat er geantwortet, „ich kümmere mich darum.“ Am Ende des Tages hatten alle unterschrieben. Wenn der Gentner, der Harnik und wie sie alle heißen zur Leistungsdiagnostik herkommen, grüßen sie jeden freundlich, und sie verabschieden sich, bevor sie gehen. Die VfB-Profis verhalten sich wirklich korrekt.
Welche Auswirkung hat der tägliche Umgang mit Spitzensportlern auf Sie?
Mein Ehrgeiz wurde geweckt. Ich trainiere vor und nach der Arbeit selbst an den Kraftgeräten. Und ich spiele seit Kurzem Golf.
Sie scherzen wohl.
Das ist die Wahrheit! Der Olympiastützpunkt hatte auf der Messe CMT einen Stand beim Württembergischen Golfverband, weil Golf bei den Spielen in Rio nach 112 Jahren erstmals wieder eine olympische Disziplin ist. Jedenfalls lernte ich einen Golftrainer aus Bondorf kennen. Bondorf liegt quasi vor meiner Haustüre, und deshalb habe ich ihn gefragt, ob ich mal bei ihm auf dem Platz vorbeischauen dürfe. Die ersten Versuche aus dem Rollstuhl heraus waren ernüchternd, weil ich mit dem Schläger an meinem Knie hängen geblieben bin. Aber wie es der Zufall wollte, stellte sich heraus, dass der Geschäftsführer des Tübinger Orthopädiehauses, bei dem ich seit Jahrzehnten Kunde bin, Mitglied in dem Bondorfer Golfclub ist. Dieser hat mir dann testweise einen sogenannten Paragolfer besorgt, das ist ein elektrischer Rollstuhl mit einer Aufrichtefunktion: Man wird unterhalb der Knie und an der Brust fixiert und kann dann aufrecht stehen. Ich habe mit diesem Gerät sofort an einem Turnier teilgenommen. Das hat super geklappt. Bei etwa 100 Versuchen habe ich bestimmt 90-mal den Ball getroffen.
Kaufen Sie sich nun einen Paragolfer?
So ein Teil kostet 20 000 Euro, das kann ich mir als Alleinverdiener nicht leisten. Aber ich habe Blut geleckt, Golf macht mir riesig Spaß. Ich arbeite an einer Schwungtechnik, die es mir ermöglicht, auf der Driving Range aus dem normalen Rollstuhl heraus zu spielen. Das klappt einigermaßen, und ich will noch besser werden!
Welche Ziele haben Sie sonst noch?
Das Wichtigste wäre, dass mein Arbeitsvertrag über 2016 hinaus verlängert wird. Meine Frau sagt zu mir: „Seit du am Olympiastützpunkt arbeitest, blühst du wieder auf.“ Der Job ist zweifellos wie ein Sechser im Lotto für mich. Ich bin zurzeit sehr glücklich.
Denken Sie manchmal darüber nach, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie nicht vor gut 30 Jahren zu schnell in eine Kurve gefahren wären?
Nein, ich schaue nur nach vorne.
Offen gesagt, nervt mich der höllisch laute Hardrock, mit dem die Göppinger Bundesliga-Handballer gerade die Halle beschallen – Sie auch?
Überhaupt nicht. Manchmal mache ich das Musikprogramm, dann läuft Rammstein.