Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Gibt es überhaupt keine schönen Erinnerungen an die Zeit im Kinderheim St. Josef ?
Es gab Ereignisse, die ich als schön empfunden haben müsste: An Weihnachten wurde gefeiert, an Fasching durfte ich mich als Cowboy verkleiden, und wir haben auch zwei Mal einen Ausflug mit dem Bus gemacht. Letztendlich sind diese wenigen guten Momente im düsteren Alltag untergegangen: Die meiste Zeit lebten wir wie in einem Gefängnis, wir durften nicht einmal in die Stadt. Kontakt zu Mädchen war streng untersagt, und auch wir Jungen durften uns nicht miteinander anfreunden – vermutlich, weil die Nonnen Angst hatten, dass wir sonst homosexuell werden würden. Nur dass ich das Gitarrenspiel im Kinderheim lernen durfte, ist bei mir positiv haften geblieben.
Was hat Ihre Kindheit aus Ihnen gemacht?
Ich war traumatisiert. Das zeigte sich beispielsweise darin, dass ich als junger Mann oft einen unerklärlichen Hass in mir spürte. Als ich mit 19 aus dem Lehrlingsheim rauskam, war ich aggressiv. Ich fühlte mich schnell angegriffen und wehrte mich auch gewaltsam gegen diese vermeintlichen Angriffe. Etwa drei Jahre lang habe ich zudem exzessiv Drogen genommen: Haschisch, LSD, Opium. Mich kotzte das Leben an.
Wie sind Sie aus diesem Sumpf herausgekommen?
Nach der Zeit im Bergwerk hatte ich zunächst Schlosser gelernt, doch ich bemerkte bald, dass für mich nur ein sozialer Beruf in Frage kommt. Mit 22 fragte ich im Bonner Kreiskrankenhaus an, ob ich dort arbeiten könne, und man hat mich tatsächlich genommen. Von diesem Moment an änderte sich mein Leben radikal: Mit 25 Jahren habe ich mein Examen als Krankenpfleger gemacht, anschließend wurde ich zur Bundeswehr eingezogen. Kurz darauf lernte ich den Gitarrenvirtuosen Thomas Offermann kennen. Er sorgte dafür, dass ich 1983/84 internationale Meisterschülerklassen an der Musikhochschule Köln besuchen durfte. Musik ist mein Rettungsanker. Bis heute greife ich zur Gitarre, wenn es mir schlecht geht – dann geht es mir gleich besser.
Warum wurden Sie nicht Berufsmusiker?
Ich spiele gut, jedoch fehlt mir die Genialität. Ich habe einige Jahre Gitarrenunterricht gegeben, aber meinen Lebensunterhalt habe ich größtenteils als Krankenpfleger verdient. 1984 hörte ich, dass im Stuttgarter Bürgerhospital eine Weiterbildung zum Fachpfleger für Psychiatrie und Psychotherapie angeboten wird. So bin ich mit Mitte dreißig hier in Schwaben gelandet. Nach der Weiterbildung bis zu meiner Rente vor fünf Jahren war ich dann im Furtbachkrankenhaus tätig.
Muss man selbst seelische Tiefen durchschritten haben, um psychisch kranke Menschen verstehen zu können?
Nicht unbedingt, aber viele, die in der Psychiatrie arbeiten, haben in ihrer kindlichen Entwicklung irgendetwas Traumatisches erlebt. Von meinen Kollegen weiß ich, dass sie fast alle unter gebrochenen Beziehungen litten, selbst wenn sie in gut situierten Familien aufgewachsen sind. Wer sich mit Psychologie beschäftigt, macht das sicherlich meistens aus dem Drang heraus, auch etwas über sich selbst zu erfahren. Heute ist mir klar, dass ich in einer Psychiatrie arbeiten musste, um mein eigenes Leben auszuhalten.
Weil Sie dort Menschen trafen, die es noch schlimmer erwischt hatten als Sie?
Natürlich haben schwer psychotische, depressive oder manische Menschen mit größeren Problemen zu kämpfen als ich. Aber diese Erkenntnis bringt mir nichts. Vielmehr war es so, dass durch meine Begegnungen mit diesen Menschen ein Selbstfindungsprozess stattfand.