Reportage: Robin Szuttor (szu)
Hielt man im Dorf zusammen?
Wir Linzens waren mit ein paar anderen Familien bekannt dafür, dass wir nicht die Ansichten des Staates teilten. Aber wir wurden gerade noch so geduldet. Eine andere in den Augen der Stasi zweifelhafte Familie wurde hingegen von einem Tag auf den anderen nach Mecklenburg umgesiedelt, wo sie dann kilometerlange Rübenfelder beackern musste. Wir haben abends öfters Gestalten bemerkt, die durchs Fenster in unsere Wohnung linsten – Leute aus dem Dorf. Die niedersten Instinkte der Menschen wurden forciert, indem man ihnen Geschenke machte, sei es nur ein Fresskorb oder mal ein Urlaub in Bulgarien. Das war für die schon genug, dafür haben die sich verkauft. Es ist nicht schwer, die schlechten Eigenschaften eines Menschen hervorzuholen, das habe ich gelernt. Es genügt, wie beim Hund, ein Stückchen Wurst.
Und in Ihnen wuchs die Wut?
Und das Gefühl der Ohnmacht. Ich sah ja oft genug, wie die Leute, die rauswollten, in den Mannschaftswagen der Grenzer landeten. Ich sagte mir: Du bist nur einmal geboren, und du musst doch die Chance haben, in diesem Jahrhundert als freier Mensch mit all seinen Wünschen wahrgenommen zu werden. Das war in der DDR in keiner Weise der Fall. Mit 17, 18 beschloss ich, früher oder später abzuhauen. Ich wusste einfach: Was hier passiert, das ist Unrecht. Man muss gelernt haben, was richtig und was falsch ist. Dass man einen nicht belügt. Nicht im Stich lässt. Dass es sich nicht gehört, aus einem Wissen für sich privat Kapital zu schlagen, denn große Ideale wie Freiheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit können nur aus der Moral jedes Einzelnen hervorgehen. Du bist so, wie du groß geworden bist.
Sie verweigerten sich also komplett?
Nein, ich spielte das DDR-Leben mit. Ging also in die FDJ, weil ich Abitur machen wollte. Von der 10. Klasse an gab es die Möglichkeit, parallel eine Ausbildung zu machen. So hatte ich mit 19 die Hochschulreife und den Gesellenbrief als Maschinenbauer. Als nächsten Schritt trat ich in die SED ein, um Journalismus studieren zu können. Ich wollte Sportreporter werden, einer wie Heinz Florian Oertel, den ich bewunderte. Mein Plan war: ich mache das jetzt mal und überlege mir in der Zeit einen Fluchtplan.
Wie sah er dann aus?
Zunächst dachte ich darüber nach, von einer Brücke in einen Güterzug zu springen, der in den Westen fährt. Aber die Gefahr, zwischen den Waggons zermalmt zu werden, war mir zu groß. Dann kaufte ich ein Fernglas, studierte die Grenze über Monate hinweg: Wann lösen sich die Posten ab, wohin fahren sie, wo drehen sie um und all das. Aber mit nur einem Bein oder Arm wäre ich auch kein freier Mensch gewesen. So beschloss ich, über Ungarn und Jugoslawien nach Österreich zu flüchten. Schon ein paar Kilometer hinter dem Plattensee kam im Zug ein älterer Herr im Ledermantel auf mich zu und sagte auf Deutsch mit ungarischem Akzent, ich solle bitte mitkommen.
Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Mir war klar, dass jetzt mein Leben in der DDR vorbei ist. Eigentlich das Leben überhaupt. Sollte ich jemals wieder rauskommen, dann nur zum Steineklopfen oder als Rübenzupfer in Mecklenburg. Zwei Monate lang wurde ich im Budapester Staatsgefängnis bearbeitet – von Ungarn und von Stasileuten. Es waren knallharte Verhöre über Stunden. Man ließ mir keinen Schlaf mehr. Es gab Stiefeltritte gegen das Schienbein. Sie drohten: „Wenn du nicht auspackst, wer noch davon wusste, bringen wir deine ganze Familie um.“ Und dann sitzt du da als junger Mann und zitterst. Meine Eltern wussten nichts von meinem Plan, hatten keine Ahnung, wo ich war. Schließlich brachte man mich abgemagert nach Berlin, dann in die U-Haft nach Gera, wo der Prozess stattfand. Ein Tribunal, aber seltsamerweise fühlte ich mich zum ersten Mal in der DDR frei, alles zu sagen. Ich hatte ja nichts zu verlieren. Ich sagte dem Richter, dass in diesem Unrechtsstaat keine normalen Menschen leben könnten, die sich nach Freiheit und Selbstbestimmung sehnen, und dass ich das einfach nicht mehr ausgehalten habe.