Joachim Gauck preist bei seinem Antrittsbesuch in Baden-Württemberg den Bürgersinn und die Zuversicht – und er lernt Sonnenkollektoren zu bauen.

Tübingen - Der Besuch im Südwesten beginnt mit einer echten Überraschung für Joachim Gauck. Ministerpräsident Winfried Kretschmann überreicht dem ersten Mann im Staat eine Auswahl von Schriften der Schweizer Philosophin Jeanne Hersch. Die Bücher hat er eigens antiquarisch beschaffen lassen. Die im Jahr 2000 verstorbene Philosophin hat sich dem Prinzip „Keine Freiheit ohne Verantwortung“ verschrieben. „Das ist mein Verständnis, und ich glaube, da verbindet uns einiges“, sagt Kretschmann später im Landtag an die Adresse des Bundespräsidenten. Da lächelt Gauck noch scheu, doch die Anspannung löst sich schnell.

 

Mit Applaus im Stehen begrüßen die Abgeordneten sowie die Gäste auf der Tribüne das Staatsoberhaupt bei seinem ersten Antrittsbesuch in einem Bundesland. Landtagspräsident Guido Wolf entlockt dem Gast ein Lächeln mit der Bemerkung, Gaucks erster Staatsbesuch nach Polen sei doch für ihn eine Herzensangelegenheit gewesen. Ob es denn vermessen sei, dies auf den Besuch des ersten Bundeslandes zu übertragen?

Vielleicht ist es das nicht. Gauck hatte bereits im Staatsministerium betont, er freue sich unheimlich auf diesen Besuch in Baden-Württemberg. „In diesem Bundesland sehe ich Zukunft“, lobte er. Eine Gesellschaft, die zu Ängsten und Verdrüssen neige, müsse gelegentlich daran erinnert werden, dass sie Zukunft habe.

Unterwegs in einer schwarzen Limousine

Kurz nach halb zehn ist die Eskorte aus sieben Motorrädern am Rondell vor der Villa Reitzenstein vorgefahren, gefolgt von der schwarzen Limousine mit der Nummer 0-1, der neben dem Bundespräsidenten seine Lebensgefährtin Daniela Schadt entsteigt. Das Landespolizeiorchester Baden-Württemberg schmettert vor dem Transparent „Herzlich willkommen in der Villa Reitzenstein“ zur Begrüßung die württembergische Hymne „Preisend mit viel schönen Reden“. Zur Abfahrt in den Landtag gibt es dann das Badnerlied.

Im Landtag warten schon die Abgeordneten samt Ehrengästen auf den hohen Besuch. Die früheren Ministerpräsidenten Lothar Späth und Erwin Teufel sitzen einträchtig nebeneinander auf der Tribüne, ebenso Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster und die Landesbischöfe der katholischen und der evangelischen Kirche. Gespannt wartet auch eine Schulklasse aus Backnang.

Mit gelegentlichem leisem Lächeln hört Gauck, wie Landtagspräsident Guido Wolf die freiheitlichen Traditionen Badens und Württembergs Revue passieren lässt, den „epochalen Tübinger Vertrag“ als württembergische Magna Charta preist und Baden-Württemberg als das Land bezeichnet, das für repräsentative Demokratie und aktive Bürgergesellschaft stehe, „für repräsentative Demokratie plus“ sozusagen.

Die Schreckensvision des Bundespräsidenten

Kaum eine Regung schleicht sich in die Gesichter von Gauck und Daniela Schadt, als Ministerpräsident Winfried Kretschmann darlegt, „wir machen uns in Baden-Württemberg auf den Weg, die Bürgergesellschaft wachsen zu lassen“. Dennoch bekennt der Bundespräsident später, während der „herausragend konzentrierten Worte“ von Kretschmann und Wolf habe ihn „eine Schreckensvision befallen“. Die Vision von Separationsbestrebungen nämlich. „Ich hoffe, dass Sie und Ihr Land treu im Bund verbleiben“, sagt der Präsident und erobert damit das Publikum endgültig.

Nächste Woche feiert das Bindestrichland seinen 60. Geburtstag. Gauck sagt, er wolle mit seinem Besuch „seine Wertschätzung ausdrücken, für den Geist, der im Südwesten herrscht“. Der gebürtige Rostocker räumt in seiner zwanzigminütigen Rede im Landtag ein, dass sich sein Bild von Baden-Württemberg mit den Jahren gewandelt habe. „Als ich ein Junge war, habe ich eine bestimmte Automarke mit Ihrem Land verbunden“, sagte er zum Amüsement der Zuhörer. Als Student haben es ihm die süddeutschen Dichter und Denker angetan, inzwischen findet er den Bürgersinn in Baden-Württemberg imponierend.

Gauck verteidigt die parlamentarische Demokratie

Dass die Bürgerbeteiligung ausgebaut werden soll, bewertet er als eindrückliches Zeichen der demokratischen Kultur Baden-Württembergs, die ständig weitergeführt werde. Dass das Land eine eigene Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung beschäftigt, das muss Gauck ablesen, „so innovativ ist das“. Die Staatsrätin Gisela Erler quittiert die Würdigung mit lautem Lachen. Kretschmann, in der ersten Reihe vor den Abgeordnetenbänken, strahlt begeistert. Doch der Bundespräsident verteidigt im Stuttgarter Landtag ausdrücklich die parlamentarische Demokratie: Sie sei ein Schatz. „Sie darf nicht in die Defensive geraten in einer Gesellschaft, in der wir mehr Beteiligung ersehnen.“ Gauck ruft dazu auf, die Möglichkeiten zur Beteiligung stärker zu nutzen. „Was für ein Gewinn wäre es, wenn mehr Leute fragen würden, wo kann ich mich ehrenamtlich engagieren, zum Beispiel im Gemeinderat.“ Partizipation ist für Gauck in der Bundesrepublik „kein abstraktes Sehnsuchtswort. Sie ist politische Wirklichkeit. Sie ist täglich möglich.“

Er lerne, Präsident zu werden, sagt der Bürger Gauck. Der technische Laie Gauck lernt später bei der Firma Ritter in Dettenhausen (Kreis Tübingen), wie Wärme ökologisch erzeugt wird. Als alter Mann staune er wie ein Kind, „was alles möglich ist im Bereich Technik und Industrie“. Im Trabbi habe er zwar den Keilriemen gefunden und konnte „sogar als Pfarrer das Auto reparieren“, doch jetzt legt der 72-Jährige zusammen mit Kretschmann erstmals Hand an einen Sonnenkollektor. Beide schieben je eine Vakuumröhre auf das sogenannte Register. Sie veredeln das Werk mit ihren Namenszügen. Der Kollektor ist signiert mit „Joachim Gauck 19. 4. 2012“. Daneben steht die Unterschrift Kretschmanns. Das macht den Kollektor unverkäuflich, versichert die Geschäftsführung.

Beim Kantinenessen bleiben Bürgerpräsident und Belegschaft ebenso unter sich wie bei den anschließenden Empfängen für geladene Gäste. Vor dem Werkstor haben sich zwei Dutzend Schaulustige eingefunden, die einen Blick auf die zwei Spitzenpolitiker werfen wollen. „Das ist schon ein Erlebnis für einen so kleinen Ort“, sagt der Abiturient Christian, der mit seinen Freunden im Schulbus von dem Ereignis erfahren hat und sofort gekommen ist. „So nah kommt man wohl nie mehr an den Bundespräsidenten heran.“

Die erste Gemeinschaftsschule im Land

Warum ausgerechnet Tübingen? CDU-Kreise kolportierten Seilschaften zwischen Grün in Stuttgart und Tübingen. „Ach was“, sagt der grüne Oberbürgermeister Boris Palmer. Der Bundespräsident habe eine Schule in Baden-Württemberg besuchen wollen. Das Kultusministerium schlug die einzige schon existierende Gemeinschaftsschule im Land vor, die Tübinger Geschwister-Scholl-Schule. Und als der Organisationsstab in Berlin gemerkt hat, dass Tübingen nur 20 Minuten vom Flughafen entfernt ist, passte das ins Programm.

„So offene herzliche Kinder – das könnte ausreichen fürs ganze Jahr“, fasst Gauck den Besuch in der Schule zusammen. Einige Schüler hatten das Thema Grafeneck vorbereitet, wo 1940 von den Nationalsozialisten 10 654 kranke und behinderte Menschen umgebracht wurden. „Wenn ihr Mitschüler fragt, dann kennen die Grafeneck wohl nicht“, fragt der Bundespräsident. „Stimmt“, sagen die Schüler und berichten sogleich vom Grafeneck-Prozess des Jahres 1949, damals seien viele an den Morden beteiligte Menschen nahezu ungeschoren davongekommen. „Das wussten nun wir nicht“, erklären Gauck und Kretschmann unisono.

Auch die Frauen setzen ihre Unterschriften ins Goldene Buch

„Was für ein schöner Donnerstag!“ So begrüßt Palmer den hohen Gast im Öhrn des Rathauses. Ins Goldene Buch der Stadt tragen sich sowohl Joachim Gauck als auch und Winfried Kretschmann ein – und gleich danach Daniela Schadt und Gerlinde Kretschmann. Dass auch die Partnerinnen der Staatsmänner zum Zuge kommen, wird von den Anwesenden ausgesprochen begrüßt, ganz speziell von der Tübinger Ehrenbürgerin Inge Jens: „Das ist jetzt gut, das billigen wir!“

Applaus allenthalben – wo immer der Bundespräsident vorbeigeht oder stehen bleibt. Zwischen Tübinger Rathaus und dem wenige Hundert Meter entfernten Evangelischen Stift schüttelt Gauck Hände, berührt Kinderköpfe und lächelt in zahllose Handykameras. Am Abend trifft er mehr als hundert geladene Gäste aus dem ganzen Land und rund 130 Tübinger Bürger. Einen Querschnitt der Bevölkerung wollte die Stadtverwaltung einladen. Anmeldungen waren über die Homepage der Stadt, über E-Mail und auf dem Postweg möglich. Grund: ältere Menschen ohne Internetanschluss sollten in der Stadt des Geistes nichts ausgeschlossen bleiben.

Die Ermunterung zum Ehrenamt

„Warum sind Sie hier?“, fragt Gauck in das Refektorium des Stifts, den großen Raum, den Studenten nur den Speisesaal nennen. „Sie können ja nicht alle total berühmt sein, sonst würde ich Sie ja kennen.“ Und er wünscht sich nur, dass „wir uns öfter treffen können, damit wir uns austauschen können, auf welcher Baustelle wir gerade arbeiten“. Gauck bezeichnet Baden-Württemberg mit seinem ausgeprägten Bürgersinn als eine „Burg der Rechte“, die er vom Verfassungsgericht in Karlsruhe gewahrt sieht. Und er schwärmt regelrecht von dem Land, in dem jeder Zweite ein Ehrenamt ausübt. „Bleiben Sie aktiv!“, ruft er dem Publikum zu.

// Alles zum Gauck-Besuch unter http://stzlinx.de/gauckinbawue