Die Bestsellerautorin Charlotte Link schreibt psychologische Romane in der Manier englischer Krimis. Akribisch leuchtet sie die Abgründe der menschlichen Seele aus. Simone Höhn hat sich mit ihr getroffen.

Stuttgart - Es war nur ein kurzer Augenblick, irgendwo im Niemandsland in Nordfrankreich. Sommer 2009, Charlotte Link ist mit ihrer Familie auf der Rückreise aus dem Urlaub, seit zehn Stunden auf der Autobahn. Hitze, Stau, Stress. „Die Hunde mussten raus, also steuerten wir einen Parkplatz an. Es herrschte dicke Luft im Auto, unsere Tochter bockte, setzte sich neben das Auto und sagte, sie käme nicht mit“, erinnert sich die Autorin. Also ging Charlotte Link mit ihrem Ehemann und den Hunden los. Nach der ersten Biegung erschrak sie über sich selbst. „Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich gerade etwas ganz Furchtbares mache, ein achtjähriges Mädchen mutterseelenallein in einer abgelegenen Gegend auf einem Parkplatz sitzen zu lassen. Wenn der falsche Mensch im falschen Moment vorbeikommt, ist sie weg. Im Laufschritt kehrte ich um.“ Die Tochter war noch an Ort und Stelle, und eine neue Romanidee war geboren.

 

Charlotte Link nennt solche Schlüsselaugenblicke die „Begegnung mit der Idee“. Einen Buchtitel lieferte die Situation gleich mit: der einsame Parkplatz trägt den idyllischen Namen „Val au renard“ – Tal des Fuchses. Das neueste Werk der 49-Jährigen „Im Tal des Fuchses“ steht inzwischen auf Platz neun der „Spiegel“-Bestsellerliste, die beschriebene Situation hat Link in abgewandelter Form im Einstieg des Krimis verewigt. Beim Gespräch mit der 49-Jährigen begegnet man einer zurückgenommenen, beobachtenden Frau, die erst mit der Zeit auftaut und dann temperamentvoll über sich und ihre Arbeit spricht. „Das ist im Grunde der klassische Verlauf der Ideenfindung: es gibt einen kleinen Auslöser, etwas, das sich unmerklich in mein Bewusstsein schleicht, sozusagen ein Funke, der überspringt.“ Wenn die Wahl-Wiesbadenerin spricht, wirkt jeder Satz wie in Stein gemeißelt, man könnte auch sagen: bemüht. Doch wirkt das Schriftdeutsch bei ihr authentisch.

Link ist in der Sprache zu Hause

In Duktus und Erscheinung würde sie auch als Deutschlehrerin durchgehen. „Ich mag Situationen, in denen sich Menschen durch bestimmte Umstände in eine ausweglose Lage manövrieren, die dann möglicherweise kriminelles Potenzial in ihnen wachruft.“ Sie gestikuliert kaum und gerät nur selten ins Stocken – in der Sprache ist Link zu Hause. Ihre Bücher sind im Reich der Massenunterhaltung angesiedelt, triviale Elemente durchaus vorhanden. Schon die wiederkehrende Kulisse ihrer Geschichten – nordenglische Steilküstenlandschaft, Sturm, Wellen – erinnert mithin an die Klischees einer Rosamunde Pilcher. Zur Recherche und zum Schreiben zieht sie sich häufig nach England zurück, macht sich ihre Notizen sogar auf Englisch. „Das Land, die Sprache, die Architektur inspirieren mich sehr, ich fühle mich dort stimmig.“ Link ist eine versierte Romandramaturgin, die nicht nur ein Erzählgeheimnis schlüssig aufbauen kann, sondern die eben auch Wert auf verdichtetes, (über-)korrektes Deutsch legt.

Mit der „Sturmzeit“-Trilogie schaffte die Autorin Anfang der neunziger Jahre den Durchbruch. Neben anderen Werken wurde diese vom ZDF verfilmt. „Das war ein Wendepunkt. Damals kehrte ich mich langsam von meinem bisherigen Genre, den Historienromanen, ab.“ Es folgten zahlreiche Spannungsromane in englischer Erzähltradition, die hauptsächlich in der Jetztzeit spielen oder – auch ein Faible der Autorin – Vergangenes mit der Gegenwart verweben. Inzwischen ist Link mit jedem neuen Buch eine Bestseller-Platzierung garantiert, darauf verlassen mag sie sich trotzdem nicht. „Je mehr Erfolg, desto größer der Druck, desto höher die Messlatte, über die ich springen muss. Vor jeder Veröffentlichung habe ich Ängste und bin total nervös. Mit den Jahren verliert man da auch ein wenig an Leichtigkeit.“ Die Plots ihrer Bücher wirken oft ähnlich, obwohl die Charaktere sehr unterschiedlich sind. Mal geht es um ein verschwundenes Kind, mal um eine gedemütigte Ehefrau.

Das Grauen spielt sich in den Köpfen ab

Alle vereint eine zutiefst gekränkte Seele, die sich Linderung verschaffen muss und das meist – so will es das Genre – auf grausame Weise. Sie bedient sich ausgiebig der Klaviatur menschlicher Abgründe, sie leuchtet die Psyche vermeintlich „normaler“ Menschen aus und lässt sie mitunter abscheuliche Taten begehen. Dabei bleibt Link subtil, das Grauen spielt sich in den Köpfen der Leser ab. Nie wird sie blutrünstig oder gar allzu genau in ihren Schilderungen von Gewalt. Ein Stilmittel, das vor allem Frauen mögen, wie die vornehmlich weibliche Leserschaft vermuten lässt.

„Mich fasziniert, was Menschen in Situationen treibt, in denen sie ganz extrem und jenseits der Norm handeln“, erklärt die Autorin. Das Warum ist für sie interessanter als das Wie: „Deshalb schildere ich auch die Vorgeschichten der handelnden Personen so detailliert. Ich will herausarbeiten, warum ein Mensch in seinem Leben an einen bestimmten Punkt anlangt, an dem er zu etwas fähig ist, was zuvor unmöglich gewesen wäre.“ Wenn Link ihr Handwerk erläutert, wandert ihr Blick im Raum umher, die sonst in Mimik und Gestik so karg wirkende Frau unterstreicht plötzlich Sätze mit der erhobenen Hand. Man spürt förmlich, wie die Gedanken in ihrem Kopf arbeiten.

Die Fassaden bröckeln

„In meinen Büchern gibt es keine schlechthin bösen oder perfiden Menschen, keine Psychopathen, die nicht zu Empathie fähig sind.“ Vielmehr handele es sich um Charaktere, die sich eine Maske zugelegt haben, mit der sie sich durch den Alltag hangeln. „Das kennen wir doch alle von uns selbst. Jeder baut sich eine Fassade auf, um sein Innerstes zu schützen. Ich bin erstaunt, wie oft ich mich im täglichen Leben in Menschen täusche und auf die Fassade herein falle. Ich ziehe mein Wissen aus diesen Irrtümern.“ Die Autorin ist Meisterin darin, diese Fassaden bröckeln zu lassen. Sie tut es mit solcher Präzision, dass selbst geübte Link-Leser – nicht immer, aber meistens – noch überrascht werden vom menschlichen Abgrund, der sich nach Hunderten von Seiten plötzlich auftut.