Der FDP-Chef Christian Lindner und der frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Wolfgang Huber, haben in grundlegenden Fragen zu Freiheit und Gerechtigkeit überraschend viele Berührungspunkte.

Stuttgart - Erst diese Woche hat die Bertelsmann-Stiftung in einer Studie eine wachsende Ungerechtigkeit in der Europäischen Union gegenüber der jungen Generation festgestellt. Stimmt also die vielfache Behauptung, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich öffnet, die Armut selbst unter arbeitenden Menschen zunimmt – mithin also Gerechtigkeit und Solidarität in der Gesellschaft abnehmen?

 

Der Theologe Wolfgang Huber Foto: dpa
So simpel wollen der FDP-Parteichef Christian Lindner und der frühere Vorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Bischof Wolfgang Huber, die Welt nicht sehen. Die beiden diskutierten auf Einladung der Heuss-Stiftung im rappelvollen Haus des ersten Nachkriegs-Bundespräsidenten Theodor Heuss auf dem Stuttgarter Killesberg. „Freiheit – Gleichheit – Gerechtigkeit?“ war die Veranstaltung überschrieben, und mancher Besucher dürfte überrascht gewesen sein, wie nahe sich der Politiker und der Theologe in machen Bewertungen warfen.

Gerechtigkeit ist anderes als Barmherzigkeit

Gerechtigkeit, so Huber, habe im christlichen Verständnis stets eine soziale Dimension, wie es auch im Buch der Sprüche Salomos (14,34) zum Ausdruck komme: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben.“ Politische und soziale Gerechtigkeit, so folgert Huber, lägen nicht weit auseinander, denn es gehe immer um eine faire Beteiligung. Exklusion – der Ausschluss von Menschen, sich an der Gesellschaft zu beteiligen – sei das Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit. „Ich warne aber davor, den Begriff der Gerechtigkeit zu überdehnen“, sagte Huber, „Gerechtigkeit ist nicht Barmherzigkeit, man kann mit dem Verweis auf Gerechtigkeit nicht alles und jedes fordern“.

FDP-Chef Christian Lindner. Foto: dpa
Da war Huber nicht weit entfernt von Christian Linder, der mit Verweis auf den österreichischen Ökonomen und Sozialphilosophen Friedrich August von Hayek soziale Gerechtigkeit als „Wieselwort“ bezeichnete. So wie Wiesel in der Lage seien, Eier auszusaugen und gleichwohl dabei die Schale weitgehend intakt zu lassen, so sei die soziale Gerechtigkeit zu einem „deformierten Streitbegriff“ geworden. Gerechtigkeit, so der Liberale, sei „genuin politisch, der Kern des Politischen“. Aber Lindner will Gerechtigkeit verstanden wissen wie im angelsächsischen Sport: gleicher Startpunkt, gleiche Regeln für alle, Fairness. Diese Punkte seien nicht durchgehend erfüllt, räumt Linder ein und verweist auf das Steuerrecht, das etwa Familienunternehmen stark belaste, internationale Player könnten sich aber ihrer Verantwortung entziehen.

Ungleichheit durch Fleiß oder ungerechte Startchancen?

Lindner grenzt freilich wie Huber auch Gerechtigkeit von Gleichheit ab. „Vielfalt in der Gesellschaft ist ein Gebot der Gerechtigkeit.“ Fleiß, Talent und Risikobereitschaft erzeugten aber unterschiedliche Resultate. „Entscheidend ist, ob Ungleichheit durch Fleiß entsteht oder durch ungerechte Startbedingungen“ – etwa für die 80 000 jungen Leute, die jährlich die Schule ohne Abschluss verließen und chancenlos am Arbeitsmarkt seien. Für Huber ist Freiheit als Begriff „ebenso ausgesaugt, aber unverzichtbar. Gerechtigkeit ist das System der gleichen Freiheit, es muss aber zu unterschiedlichen Ergebnissen führen“. Gerechtigkeit mit Gleichheit gleichzusetzen sei Unsinn. „Der unterste in der Skala kann anerkennen, dass auch der Oberste für ihn von Nutzen ist“, erklärt der Theologe. Die Ungleichheit müsse freilich Grenzen haben, andernfalls gebe es keine gesellschaftliche Stabilität, meint Lindner. Huber kommt zum gleichen Schluss: „Freiheit ohne Gerechtigkeit ist der Tod der freiheitlichen Gesellschaft.“

Deshalb komme der Markt auch nicht ohne freiheitsregulierenden Maßnahmen aus. Hier zeigen sich denn aber doch Bewertungsunterschiede. Während der FDP- Parteichef in der Marktwirtschaft eine „objektive Werteordnung“ sieht, in der Verantwortung durch Haftung geübt werde, widerspricht Huber mit Verweis auf die globalisierte Wirtschaft und die Bankenkrise 2008: „Da hat der Steuerzahler gehaftet.“