Christoph Ransmayer erzählt in seinem Roman „Cox“ von einer Reise ans Ende der Zeit. Mit magischer Präzision führt er eine Chinoiserie aus dem 18. Jahrhundert in die Kältezonen unserer eigenen Gegenwart.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Die Herrschaft über die Zeit ist vielleicht das gewaltigste Mittel, Macht über die Menschen auszuüben. In seiner Studie „Verbrechen und Strafen“ hat der französische Philosoph Michel Foucault gezeigt, wie sich in den klösterlichen Gemeinschaften ein strenges Schema der Zeitplanung herausgebildet hat, das die Folie für die Disziplinierung in anderen gesellschaftlichen Bereichen abgegeben hat. Der einfachen Dauer des sündhaften Daseins rücken die mönchischen Frömmigkeitsübungen durch das Einteilen und Bemessen verfliegender Sekunden, Minuten, Stunden zu Leibe. Ihr Rhythmus klingt nach in dem vom Stampfen der Maschinen vorgegebenen Takt, dem sich später die Werktätigen in den Fabrikhallen zu beugen haben, um in der irdischen Ordnung, die die himmlische beerbet hat, ein wohlgefälliges Leben zu führen.

 

Pünktlichkeit ist eines der kulturellen Distinktionsmerkmale, mit dem der Westen seine Überlegenheit über den in den Tag hinein lebenden Orient begründet hat. Er hat dabei jedoch die Rechnung ohne den chinesischen Kaiser gemacht, von dem Christoph Ransmayr in seinem neuen Roman „Cox“ berichtet. Denn jener Qiánlóng regiert im 18. Jahrhundert ein Reich, das, wie Ransmayr schreibt, „ein bis auf Herzschläge, Atemzüge und Kniefälle geregeltes, höfisches Leben nicht anders umfasste als ein ziseliertes Gehäuse das Räderwerk einer Uhr“. Alle Aufmerksamkeit steht dem Kaiser und den Vollstreckern seines Willens zu, er ist der Himmelssohn und zugleich Herr über die Zeit. Seine Gesetze bestimmen jede Regung des Lebens, den Lauf eines Flusses wie die geheimsten Gedanken.

Mischung aus Nordkorea und 1001 Nacht

Qiánlóng, zum Zeitpunkt der Handlung ein zierlich wirkender Mann von 42 Jahren, ist ein leidenschaftlichen Liebhaber von Uhren und Automaten. Deshalb hat er den besten Feinmechaniker seiner Zeit, Alister Cox, aus London an seinen Hof geholt, dass dieser ihm nie gesehene Werke nach seinen Träumen schaffe. Bisher kreiste Cox‘ Welt um die Sonne seiner Tochter Abigail, mit fünf Jahren ist sie an Keuchhusten gestorben. Nun steht die Zeit still. Und sie beginnt sich erst wieder zu drehen, als er in der verbotenen Stadt einen neuen Mittelpunkt findet. Der traurigste Mann der Welt trifft auf den Mächtigsten, der sich die Welt, die Fluten, die Gebirge untertan gemacht hat.

Schon in der Eingangsszene werden zwei Handlungssequenzen wie durch das verborgene Räderwerk eines komplexen Uhrwerks aufeinander bezogen. In der unter Nebel verhüllten Stadt Hángzhōu findet zu Beginn eine Hinrichtung statt. 27 betrügerischen Steuerbeamte und Wertpapierhändler werden verstümmelt – Verbrechen und Strafe. Während sich Raben auf die blutigen Fetzen abgeschnittener Nasen stürzen, segelt der Dreimasters „Sirius“ in die Hafenbucht. An Bord der englische Uhrmacher samt seiner besten Gehilfen und eine Arche Noah voll metallener Wundertiere. Strafapparat und Zeitkompetenz laufen synchron.

Das China, das Ransmayr mit kalligrafisch feinem Pinsel zeichnet, ist eine Mischung aus Nordkorea und 1001 Nacht: Wie in einem Märchen stellt der Kaiser dem englischen Gast, der sein Vorbild in dem im 18. Jahrhundert tatsächlich in China wirkenden Londoner Automatenbauer James Cox hat, drei Aufgaben; wie in einer Diktatur unterliegt dessen Schaffen am Leib der alles durchdringenden Zeit einer minutiösen Kontrolle seitens des obersten Herrschers. Cox soll Uhren bauen, die den Lauf des menschlichen Lebens in seinen wechselnden Geschwindigkeiten messen. Zunächst eine die das Zeitempfinden derer misst, die ins Leben treten, dann eine für die schweren Stunden der Sterbenden. Für jene ersinnt er eine Winduhr, „die das wellenförmige Gleiten, das an- und abschwellende Rauschen, die Sprünge, Stürze, Gleitflüge und selbst den Stillstand der Lebenszeit eines Kindes spürbar machen und messen konnte“. Den rasenden oder erstarrenden Flug der Zeit während der letzten Stunden eines menschlichen Lebens fasst er in eine Feueruhr. In Gestalt des Großen Drachens, der chinesischen Mauer, verglüht in ihrem Inneren die Zeit.

Das kalte Quecksilberherz des Todes

Die vornehmste und schwierigste Aufgabe aber ist die Konstruktion einer Ewigkeitsuhr, aus der sich die Vergänglichkeit befreit wie ein Insekt aus seinem Kokon. Es ist der alte Traum vom Perpetuum mobile, den der liebende Vater im Andenken an seine verstorbene Tochter träumt um gegegn die Vergänglichkeit zu rebellieren. Ihn zu realisieren führt in die äußerste Nähe des Todes. Eine atmosphärische Uhr, die vom Steigen und Fallen des Luftdrucks für alle Zeiten wie von einem aufgezogenen Gewicht betrieben wird, soll die Unerbittlichkeit der Zeit bezwingen. Ihre Überfülle an Ewigkeit entspricht dem Augenblick der Liebe: „von keiner Uhr zu messen, scheinbar ohne Ausdehnung wie ein Jahrmillionen entfernter, glimmender Punkt am Firmament.“

In den Wunderkammern der Fürsten und Kaiser der Neuzeit finden sich kostbare Gebilde, Tischaufsätze, Salzfässer und Apparaturen, die in ihrer filigranen, aufs kleinste gerichteten Kunst ein Abbild der Welt und der sie überwölbenden Harmonie des Kosmos schaffen. Aber in welches Referenzsystem stellt sich Ransmayrs sprachlich so fein gearbeitetes Werk? Hinter der märchenhaften Anschaulichkeit des darin vorgeführten machtvollkommenen Großreichs pulst das kalte Quecksilberherz des Todes. Ist Abigail auf ihrem Sterbelager schon wie ein mechanischer Engel erschienen, schiebt sich später eine Doppelgängerin von ihr durch die gigantische Spieluhr dieses Romans.

Vom höchsten Augenblick bleibt nur Asche

Und so erinnert jene Uhr aller Uhren, die die Zeit aufhebt und auf Ewigkeit stellt, an jene ultimativen menschlichen Erzeugnisse, die Entsprechendes kraft ihres Vernichtungspotentials bewirken. Wie den Bausatz einer Atombombe überreicht Cox am Ende dem Herrn der zehntausend Jahre das Kästchen mit den Teilen des großen Werks: „Niemand anderer als der Herr der Welt, nun selber ein Uhrmacher, nun selber ein Maschinist, konnte so als der Vollender des Wunders gelten.“ Vollendung aber ist hier gleichbedeutend mit Vernichtung. Vom höchsten Augenblick bleibt am Ende nur Asche übrig.

Ransmayr, der in seinen Romanen die Enden der Welt erkundet hat, wagt sich hier an den extremen Punkt, wo Schönheit und Schrecken zusammenfallen. Mit imaginärer Präzisionskunst setzt er seiner totalitären Chinoiserie eine Mechanik ein, in der der Einzelne nur als das sprichwörtliche Rädchen im Getriebe kreist. Schlägt ihm die Stunde, wird er so unerbittlich zermahlen, wie die Delinquenten in den mit frostklarer Grausamkeit beschriebenen Hinrichtungsszenen. In einer magischen Korrelation steht damit die Geschichte, die dieser parabelartige Roman erzählt zu den Kältezonen der Zeit, die wir bewohnen.